In der Nazizeit auseinandergerissen
Im Zusammenhang mit der Geschichte von Otto, Walther und Hermann Jahrreiß fällt immer wieder das Wort „Schicksal“ – ein sprachlich hilfloser Versuch, das Geflecht aus politischen Realitäten, persönlichen Entscheidungen und kontingenten Ereignissen irgendwie zu fassen zu bekommen. In der Nazizeit werden die Lebenswege der drei Brüder auseinandergerissen. Walther, ein Nervenarzt und mit einer Jüdin verheiratet, wandert nach seiner Entlassung an der Universität Köln 1936 mit seiner Familie in die USA aus. Otto, der in Dresden als Rechtsanwalt arbeitet, ist ebenfalls mit einer Jüdin verheiratet. Ruth Mannheim will ihren Mann, so lässt sich anhand der Dokumente nachvollziehen, nicht aus dem Beruf herausreißen, die Familie beschließt abzuwarten. Bis es zu spät ist.
1942, nur zwei Jahre nach der Geburt ihres zweiten Sohnes (der Vater der Regisseurin), wird Ruth denunziert und in Schutzhaft genommen, nur wenige Wochen später erfolgt die Deportation nach Auschwitz. Als ihr Mann nach der Todesnachricht in allen Dresdner Tageszeitungen Anzeigen schaltet, deren Text unmissverständlich die Umstände benennt („grausam entrissen“), wird er inhaftiert. Nur durch die Intervention des ältesten Bruders kommt er frei. Hermann ist wie Otto Jurist und hat unter den Nazis als Staats- und Völkerrechtler Karriere gemacht, während des Zweiten Weltkriegs nimmt er am NS-Projekt „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“ teil und geht auf Einladung der NSDAP in Deutschland auf Vortragsreisen. Otto bekommt nach der Haftzeit Berufsverbot und wird zur Zwangsarbeit in einem Rüstungsbetrieb verpflichtet.
Jahrelang vom Leib gehalten
Otto Jahrreiß’ Sohn Walther hat sich die Geschichte seiner Familie jahrelang vom Leib gehalten. Dass seine Tochter ihn nun mit Fragen bedrängt und ihm Fotos und Briefe unter die Nase hält, scheint ihn zunächst zu befremden. „Mein Gott, ja“, sagt er, wenn sie ihm einem neuen Archivfund zeigt, ihm vorliest aus Briefen und Akten. Fast stumm geht er neben ihr her, als sie das Gelände des früheren Güterbahnhofs überqueren, wo die Transporte in die Vernichtungslager abfuhren. Seine Sprachlosigkeit und Verdrängung zeigen sich immer mehr als Teil eines familiären Erbes.
Die Mutter sei in einem Sanatorium gestorben, erzählte Otto Jahrreiß seinen beiden Söhnen, die erst spät von ihren jüdischen Wurzeln erfuhren. Über die Vergangenheit gesprochen wurde in der Familie grundsätzlich nicht – auch nicht darüber, dass Walther bei der Geburt einen Zwillingsbruder verlor. Der diffusen bedrückenden Stimmung versucht er zu entfliehen, kurz vor dem Mauerbau geht er in den Westen.
Im geteilten Deutschland beginnt noch mal eine andere Geschichte. Der aus den USA zurückgekehrte Walther kann sich nach seiner Entlassung vom Lehrstuhl im Zuge der Entnazifizierung schnell rehabilitieren und steigt sogar zum Rektor der Universität auf. Otto wird Ende der 1950er-Jahre von der Stasi angeworben, auch wenn er keine Verpflichtungserklärung unterschreibt, wird er sie nicht ganz los. In den Akten wird er unter dem Decknamen der mutmaßlichen Denunzianten seiner Frau geführt. Gegen Ende des Films driftet die Perspektive immer mehr ins Private. Spielsucht, Alkoholismus, Standesdünkel, Spannungen mit der Stiefmutter – „Der dritte Bruder“ verliert den Blick für Zeitläufe und zerfasert im Spekulativen.
Forschen nach einer Reaktion
Anders als Thomas Heise in „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ (2019) baut Kathrin Jahrreiß nicht auf die Aussagekraft des schriftlichen Archivmaterials, das streckenweise aus dem Off verlesen wird. Ihr geht es primär um die persönliche Begegnung. In Gesprächen ergründet sie, was sich in den materiellen Hinterlassenschaften nicht abbilden lässt, sucht Schauplätze und Zeitzeug:innen auf und forscht im Gesicht des Vaters nach einer Reaktion. „Was hast du noch im Köcher?“, fragt er irgendwann, als die verspätete Aufarbeitung bei ihm schon sichtbar Spuren hinterlassen hat.