Der Kurator wedelt mit den Händen. Er versucht, die zwei Stunden zu beschreiben, die sein Leben verändert haben, als er noch ein Schuljunge in London war. Damals entdeckte Georg Weber in der National Gallery die Kunst des holländischen Malers Jan Vermeer, eine stehende und eine sitzende Virginalspielerin. In Licht badende Figuren, Bilder, in denen selbst die Schatten farbig sind. Wo Leonardo da Vinci noch mit schwarzer Farbe malte, schimmert bei Vermeer das Dunkle kaltblau oder moosgrün. Ein Wunder. Dem jungen Weber wurde schwarz vor Augen, als würde er mit seinem inneren Auge jene absolute Dunkelheit herstellen, die sich ihm im Lichtbad auf der Leinwand vor ihm auf so rätselhafte Weise entzog. Was der heutige Kurator des Amsterdamers Rijksmuseums Jahre später vor der Kamera auszudrücken versucht, ist der Schock, den diese Bilder in ihm verursachten, nicht nur für die zwei Stunden der Ausstellung, sondern auch darüber hinaus. Doch dann kommt das Handwedeln, der Mann bittet um Verzeihung, der Take wird abgebrochen.
Momente der Vermeer-Epiphanie
In der Dokumentation „Vermeer – Reise ans Licht“ von Suzanne Raes kommt es immer wieder zu solchen Momenten, in denen die hochprofessionellen Gesprächspartner:innen den Faden verlieren, nicht weiter wissen oder einmal sogar in Tränen ausbrechen. Sie alle kennen auf die eine oder andere Weise einen Moment der Vermeer-Epiphanie, der Erleuchtung. Darin besteht, neben dem filmischen Eintauchen in die Leinwände des holländischen Barockmalers (1632-1675), der Reiz dieses Films, der die Vorbereitung einer viel beachteten Vermeer-Ausstellung im Rijksmuseum nachzeichnet. Von Februar bis Juni 2023 wurden dort 28 der 37 erhaltenen Vermeer-Gemälde gezeigt; die Tickets waren schon kurz nach der Eröffnung ausverkauft.
Was kann man von einem solchen Film erwarten, außer der faszinierenden Konfrontation mit Vermeers Malkunst und dem Nachzeichnen des Schauers, den selbst hartgesottenen Spezialist:innen empfinden? Er wirkt wie eine Art Begleitprogramm zur Ausstellung, ein audiovisueller Katalog oder ein Making-of. In seiner knappen Dauer von 80 Minuten ist er angenehm konzentriert und schmiegt sich sowohl der geringen Anzahl der Gemälde wie auch dem erstaunlich kleinen Format von Vermeers Bildern an, was gerade im Vergleich zu den großformatigen Werken von Rembrandt deutlich wird. Während der über 80 Selbstporträts hinterließ, ist über Vermeers Aussehen kaum etwas bekannt; am berühmtesten dürfte seine ihn mehr verbergende als enthüllende Rückansicht in „Die Malkunst“ sein. Im 19. Jahrhundert als „Sphinx von Delft“ bezeichnet, umgibt die Figur des Malers, von dem weder Briefe noch Tagebücher überliefert sind, ein Mysterium: Wo er das Malen lernte und bei wem, bleibt im Dunkeln, das Vermeer so filigran in all seine Schattierungen zu entfächern wusste.
Gerade der Schatten wird im Film in mehrfacher Weise prominent. Nicht nur als Allegorie für die Verhüllung des Künstlers, sondern auch als jene Zone im Bild, in der das Sehen erst anhebt. Es ist der Schatten im Auge einer Frau, auf den die Kamera zoomt, während Weber erklärt, was hier eigentlich passiert: das Auge tritt, ohne jegliche Detailzeichnung, überhaupt erst aus der Schattierung hervor, erhält aus ihr seine ganze Lebendigkeit, seine „Optik“.
Im Bann der Camera Obscura
Um seine Miniaturen zu zeichnen, hatte Vermeer selbst ein optisches Instrument verwendet, eine Camera Obscura, durch die er die Realität betrachtete und in deren Sucher sie verschwamm. Raes demonstriert das an einer Stelle: ein sonnenbeschienener Vorhang wirft nicht nur einen, sondern drei Schatten, wenn man ihn durch den Apparat betrachtet. Es ist das Vorläufermodell der Fotografie und des Kinematografen, durch das Vermeer die Welt gesehen hat; seine Darstellungen sind quasi – kleinformatige – Fotografien, die malerische Vorwegnahme einer mechanischen Reproduktion der Wirklichkeit. Dementsprechend ist das Geheimnis seiner Bilder vielleicht bereits ein filmisches: Es gibt bei Vermeer ein materielles Kontinuum der Wirklichkeit, die sich auf den von Stoffbällen gezogenen Leinwänden ebenso fortsetzt, wie sie es zwei Jahrhunderte später auf Fotoplatten und Zelluloid tun wird.
Die faszinierende Perfektion dieser Bilder ist nichts als der Blick eines Filmemachers avant la lettre, für den die mannigfaltigen, schillernden Details der Welt gerade aus diesem Kontinuum entstehen. Ähnlich schildert es einer der Protagonisten des Films, der nicht nur Vermeer-Experte, sondern selbst Maler ist: Bei der Betrachtung von „Ansicht von Delft“, in der sich bis in die Wolken hinein alles zu bewegen scheint, sieht man nicht mehr die Leinwand, sondern den Hafen selbst.
Nun ist für Vermeer als Maler des Barock, der das Gesehene eben nicht einfach mechanisch aufnehmen kann, sondern malerisch herstellen muss, dieses Kontinuum dennoch gebrochen; es zerfällt im Bildraum in andere Bilder, in signifikante Details, die an allen Ecken und Enden nach Bedeutung japsen. Im Hintergrund der Bilder sind zahlreiche Einzelheiten, manchmal sogar andere Gemälde zu sehen. Die Signifikanzen überlagern und vermehren sich: verstohlene Blicke, verzögerte Momente der Erkenntnis, Situationen der Verführung zwischen Männern und Frauen, das weltberühmte, längst zur Ikone gewordene „Mädchen mit dem Perlenohrring“ oder die in ihre Arbeit vertiefte „Spitzenklöpplerin“. Es sind einfache Menschen, dargestellt bei alltäglichen Szenen und Beschäftigungen (arbeiten, vor sich hinschauen, denken, Klavier spielen, flirten), in denen sie gleichzeitig verrätselt werden. Gerade die in Innenräumen verführten Frauen wirken wie Allegorien des Bildraums, eröffnet von der Camera Obscura, in den hinein die Wirklichkeit entführt und in dem sie verführt wird, sich einer anderen, barocken Dimension hingibt, einer Welt der Malerei, zu der die kleinformatigen Bilder allenthalben den Eingang bilden.
Das Bedürfnis des Taktilen
Der Film von Suzanne Raes dient durchaus dazu, Vermeers Mikrokosmen besser wahrnehmen zu können, etwa wenn die Kamera auf Backsteine zoomt, die sich bei näherem Hinsehen als kleine Farbtupfer erweisen. Aber dieser Zugang hat seine Grenzen. Wo es darum geht, sich den Werken und Mysterien des Meisters auf allzu direkte Weise anzunähern, kann der Film nur an der Oberfläche abgleiten und erhält dabei selbst einen äußerst glatten Charakter. Das Bedürfnis taktilen Berührens zieht sich durch den ganzen Film: Die Instrumente der Restaurator:innen rücken den Bildern zu Leibe, Messerchen kratzen am Lack, ein US-amerikanischer Sammler darf erstmals „seinen“ Vermeer „nackt und entkleidet“ (vom Rahmen) in den Händen halten, verzückte, behandschuhte Hände nähern sich den Leinwänden. Gleichzeitig wird (ergebnislos) über Echtheit und Originalität einiger Bilder diskutiert, deren Zuschreibung zu Vermeer umstritten bleibt. Diese Momente sind nicht uninteressant, haben aber mehr mit dem Mythos Vermeer zu tun als mit dem Werk selbst, das sie entschlüsseln wollen, ohne es zu erhellen oder sich von ihm erhellen zu lassen. Im Grunde dienen sie dazu, es aufzuwerten, zu fetischisieren, zu authentifizieren, das heißt: zu verkaufen. Sie betrachten das Werk von außen, und bleiben ihm äußerlich, ohne viel von ihm zu sehen. Indem sie ihm zu nahekommen wollen, lassen sie es verschwinden.
Bleibt die Frage, wann wir durch Raes auf Vermeer schauen und wann durch Vermeer auf Raes. Wo letzteres der Fall ist und wir das von Raes Gefilmte wie im Inneren von Vermeers Camera Obscura wahrnehmen, bleibt es spannend. Dann wird das Sterile der Ausstellungsdokumentation einer Transformation unterzogen, die gar nicht beabsichtigt war. Ist etwa der US-Milliardär, Sammler und Besitzer eines (vermeintlichen) Vermeers, der in New York besucht wird, nicht auch eine leicht überzeichnete und schrille Erscheinung, ein „barocker Typ“? Das (sehr barocke) „memento mori“ wird ihm von einem anderen Kunsthändler angedichtet: „Reichen Leuten gehören die Bilder nur zu Lebzeiten. Dann machen sie etwas Tolles: sie sterben“ (und die Bilder gelangen in den Besitz von öffentlichen Museen.)
Die Grenzen lösen sich auf
Auch Georg Weber scheint dieser Anziehung durch den Vermeerschen Bildraum nicht zu entkommen, ohne dass er sagen kann, wo genau es ihn hinzieht. In einem Museum in Braunschweig, wo ebenfalls ein Vermeer hängt, erklärt er, mit seiner Partnerin hier zu sein, um Bekannte wiederzutreffen, „sowohl in Echt als auch in zwei Dimensionen.“ Die Grenzen zwischen Echt und Bild, Film und Gemälde, Außen und Innen lösen sich auf, die Orientierung fällt schwer. Ein anderes Mal versucht Weber, seine Aufgabe als Kurator zu definieren, und muss den Take erneut abbrechen.