Wer das Haus seiner Eltern ausräumt, weil sie gestorben sind, begegnet auf Schritt und Tritt Dingen, die plötzlich reden. Beim Aussortieren stellen sie Fragen nach ihrem Wert: Ist er ideell, materiell oder bloß sentimental? Sie fordern Entscheidungen: Welche Vase, welches Buch hat noch Bedeutung für die Lebenden – oder diejenigen, die kommen werden?
Zwei Schwestern und ihr unzuverlässiger Künstler-Vater: Darum scheint es in Joachim Triers „Sentimental Value“ vor allem zu gehen. Der Vater ist nicht tot, aber abwesend, schon lange. Eine Trauerfeier zu Beginn holt ihn zurück. Die Mutter der Theaterschauspielerin Nora (Renate Reinsve) und der Historikerin und Archivarin Agnes (Inga Ibsdotter Lilleaas) ist gestorben, das Haus ist voller Dinge, über deren Verbleib bald befunden werden muss, und voller freundlich murmelnder Gäste, die zuvor in der Kirche Abschied genommen haben. Der Vater Gustav Borg (Stellan Skarsgård), gefeierter Autorenfilmer und nach der Trennung vor Jahren nach Schweden gezogen, taucht nun plötzlich auf – ihm sei nicht nach Gottesdienst zumute gewesen, wird er seine Abwesenheit in der Kirche erklären. Der Glaube, erfahren wir später, hat nie eine Rolle gespielt in dieser aufgeklärten Familie.
Geheimnisse eines alten Ofenrohrs
Doch noch bevor die Töchter ihren Vater überhaupt zu Gesicht bekommen, verkrümelt er sich ins einstige Sprechzimmer der Verstorbenen, sie war Psychotherapeutin. Er verbirgt sich aus Scheu, das wäre die psychologische Deutung, oder aus dramaturgisch versierter Berechnung, das wäre eine Deutung, die in dem Vater vor allem einen Regisseur sieht. Nähe scheint ihm jedenfalls nur mittelbar möglich, Verständigung nur durch Hinwendung zu einem Medium, in diesem Fall: zu einem alten Ofenrohr.
Denn die Geheimnisse, die einst die Patienten hier preisgaben, belauschte früher Nora vom Stockwerk über dem Sprechzimmer aus, über jenes Ofenrohr. Von dieser Kindheitserinnerung erzählt Nora ihrem kleinen Neffen Erik (Øyvind Hesjedal Loven) bei einer Hausführung. Doch die heitere Sentimentalität der Tante löst sich in erschrockene Wut auf – und für die Zuschauer in Situationskomik: Als perfekter Vorführeffekt dringt aus dem Rohr unerwartet die Stimme des Vaters. Er verkündet, auf Trauerfeiern wisse er meist nicht, „ob ich kondolieren oder gratulieren soll“. Konsterniert kommt Nora buchstäblich wieder runter aus ihrem Puppenheim und begrüßt mit ihrer ebenfalls überraschten Schwester den Vater, distanziert.
Dieser Gustav, von Skarsgård mit zweifelndem Seitenblick und warmer Zugewandtheit verkörpert, ist ein nicht willkommener Einflüsterer, ein „Deus ex machina“ und ein mit billigen Tricks arbeitender Störenfried – und doch auch ein Magier. Das Ofenrohr ist eine feine Reminiszenz an Federico Fellinis „La Dolce Vita“, an jene Szene, in der die Melancholikerin Maddalena (Anouk Aimeé) und ihr Bruder im Geiste Marcello (Marcello Mastroianni) in altem Gemäuer über ein uraltes Luftröhrensystem einander ihre unmögliche Liebe gestehen. Martin Scorsese nannte den Film einmal einen „Festumzug des modernen Lebens und des spirituellen Kontaktverlusts“.
Sehnsucht nach Beheimat-Sein
Auch wenn Joachim Triers skandinavischer Oslo-Tetralogie (zuletzt: „Der schlimmste Mensch der Welt“) an der entsättigten Oberfläche nichts ferner zu liegen scheint als dionysische Paraden unter südlicher Sonne, so glüht im Gesicht seiner Hauptdarstellerin Renate Reinsve doch dieselbe pochende Sehnsucht nach Beheimatetsein wie im Antlitz von Anouk Aimée. Kritiker nannten Reinsve bereits die schlechthinnige Verkörperung der „lächelnden Depression“. Der Song „Dancing Girl“ von Terry Callier aus dem Jahr 1972 rahmt den Film; von einem gedämpft rauschhaften Tanz ist da die Rede, der den Träumenden zwischen Zeit und Raum führt, weder wach noch schlafend, weder tot noch lebendig. Um Freiheit geht es darin und darum, dass jeder in Einsamkeit geboren ist.
Man sollte fern aller Leidenschaft, jenseits aller Gefühle leben, heißt es in „La Dolce Vita“, „in jener Harmonie, wie sie nur ein vollendetes Kunstwerk besitzt, in einer solchen verzauberten Ordnung“. In dieser Ordnung lebt Gustav Borg. Er ist zuallererst radikaler Künstler. Das zeigt sich etwa darin, dass er seinem neunjährigen Enkel die DVDs von „Irreversibel“ und „Die Klavierspielerin“ zum Geburtstag schenkt; darin lerne dieser „alles über Frauen und ihr Verhältnis zu ihrer Mutter“, doziert er, während die Töchter lächelnd die Augen rollen.
Statt sich aber in die Flut von Arthouse-Familienaufstellungen einzureihen und von offenen Rechnungen zu plappern, die dann mit Gefühlsgetöse zur Versöhnung kurz vor oder nach dem Tod führen, trickst auch Trier. Er baut den Künstlerfamilien-Plot in aller psychologischen Sorgfalt und Vielschichtigkeit auf, um dann mit unterschwelligem Witz letztlich doch vor allem vom Ähnlichkeits- und Konkurrenzverhältnis zwischen Kunst und Glauben zu erzählen.
Fast alle Mittel, die Gustav braucht, um seinen vielleicht letzten Film zu drehen, sind ihm recht. Nur Nora könne die Hauptrolle spielen, sagt er ihr, nein, verlangt er; und schon da ist weniger Empathie als künstlerische Berechnung am Werk. Sie wäre nun einmal die beste Besetzung.
Das väterliche Rollenangebot wurde von der Kritik oft vorschnell als – von der Tochter wütend abgelehnter – Therapieversuch verstanden. Und es stimmt ja: Zu heilen wäre da einiges. Das zeigt schon der symbolträchtige Riss, der sich durchs alte Haus zieht, in dem schon Gustav aufwuchs, wie in Rückblenden zu sehen ist; und der einen Zusammenbruch in Zeitlupe markiert, wie es eine Off-Erzählerin anfangs erläutert. Noras Angst vor Nähe, ihre Nervenzusammenbrüche hinter der Bühne, ihr vor der Filmhandlung liegender Suizidversuch: Die durch unzählige Arthousefilme trainierte Küchenpsychologie will einem als Zuschauer unaufhörlich soufflieren, dass das sicher mit der Depression der Großmutter zu tun hat, die als Widerstandskämpferin gegen das Nazi-Regime einst gefoltert wurde und sich später erhängte.
Ein Hocker von Ikea
Weil Nora diese Rolle ablehnt, übernimmt ein Hollywoodstarlet: Rachel (Elle Fanning) bewundert Borgs Filme, setzt sich intensiv mit der Rolle auseinander, färbt sogar ihre Haare, um wie Nora auszusehen. Der wiederum sie ungeheuerlich genau beobachtende Regisseur flunkert ihr (und uns) dabei vor, dass der Film im Originalhaus gedreht werden und überhaupt alles möglichst echt sein solle. Jener Hocker zum Beispiel, auf dem sich seine Mutter erhängt habe, wie er der von so viel Authentizität erschütterten Schauspielerin erläutert: Es ist nur ein gewöhnlicher Ikea-Hocker, wie sich herausstellt.
Trier und sein Drehbuch-Koautor Eskil Vogt lassen, wie der Trickster Gustav Borg, die Frage nach der Echtheit immer wieder auflaufen, durch Schnitte, die zunächst suggerieren, man befände sich in einer privaten Situation, nur um sie als Bühnengeschehen zu entlarven oder als Filmszene. Die Kamera von Kasper Tuxen nutzt etwa kaum bemerkbare Spiegel und gleitet auf diese Weise wie selbstverständlich durch unmöglich scheinende Blick- und Zeitachsen. Extrem langsame Zooms auf weinende Gesichter zitieren distanziert Überwältigungsstrategien des psychologischen Kinos und schaffen dennoch genau das: sie überwältigen.
Etwa in einer Spiegelung zweier Schlüsselszenen: Einmal liest Rachel einen inneren Monolog aus Borgs Drehbuch, in dem es um tiefe Verzweiflung und das erstmalige Beten zu Gott geht. Sie gestaltet die Sätze mit umwerfender Kraft; später liest Nora denselben Text ab, allerdings nicht in der Absicht, ihn zu spielen, und wird von den Worten mitgerissen. Nicht sie formt den Text, der Text formt sie. So werden Gefühle gemacht.
Glaube & Kunst – Geschwister im Geiste
Heilung als Kollateraleffekt von Kunstausübung nehmen Gustav und Trier gerne mit; aber zuallererst ist „Sentimental Value“ ein radikales, weil an die Wurzeln illusionistischer Kunst gehendes Werk. Die freundliche Inkaufnahme des Liebevollen unterscheidet Borgs aus Menschen gemachtes Kunst-Haus von jenem, das der psychopathologische Möchtegernkünstler Jack in „The House that Jack Built“ baut, einem Film von Joachim Triers Namensvetter Lars von Trier. Jacks Werk, das Menschen benutzt, bleibt in grausamer Wörtlichkeit stecken. Gustav Borg hingegen ist Kyniker und sentimental höchstens im Schillerschen Sinn: Wenn das Ursprüngliche verloren ist, warum soll das künstlich Nachgebaute nicht wahrer sein als das Echte?
So überzeugend wie vielleicht noch nie gelingt es Trier außerdem, Beziehungen nicht bloß als über Generationen weitergereichte Problematik, sondern auch als synchrone Vielfalt zu zeichnen. Es ist ja nicht bloß, wie in ungezählten Familiendramen oft monothematisch ausgewalzt, Konkurrenz, die Geschwisterverhältnisse mit Blick auf den vermeintlich übermächtigen Vater prägt. Im gleichzeitigen Verstehen von Ähnlichkeit und Andersheit liegt schon die Heilung. Solche Geschwister im Geiste sind auch Glaube und Kunst, archiviertes Geschichtswissen und unzuverlässiges Erinnern. Von deren Gemeinsamkeit erzählt „Sentimental Value“: von jener kreativen Kraft, die widerständig macht gegen die Zumutung, sterblich zu sein.