Nach der ersten Viertelstunde von „Rückkehr nach Ithaka“ hat der Kriegsheimkehrer Odysseus (Ralph Fiennes) seinen True-Crime-Moment. Die Männer, die den Schiffbrüchigen bei sich aufgenommen haben, sitzen ums Feuer. Mit leuchtenden Augen plaudern sie über den Trojanischen Krieg, den sie nur aus Erzählungen kennen. War es ein hölzernes Pferd, das damals dem berühmten Helden Odysseus den Sieg verschaffte? Oder nur „ein Turm, um über die Mauer zu gelangen“? Und wie wurden die Trojaner eigentlich genau massakriert? Odysseus, gezeichnet vom Erlebten, gibt sich nicht zu erkennen und brummt nur: „Leute lieben Geschichten.“ Da klafft er, der Abgrund zwischen jenen, die sich an der Gewalterzählung ergötzen, und dem, der dabei war. Sie bekommen nie genug; er weiß, dass es nie aufhört.

Gefangene im eigenen Zuhause

Den italienischen Regisseur Uberto Pasolini – nicht verwandt mit seinem Namensvetter Pier Paolo, dafür Großneffe Luchino Viscontis – interessiert die sensationslüsterne Ausschmückung homerischer Heldentaten gegen Riesen und andere Monster ebenfalls nicht. Odysseus, der nach Jahrzehnten der Abwesenheit auf seine Insel Ithaka zurückgekehrt ist, fristet zunächst sein karges Dasein beim örtlichen Schweinehirten (Claudio Santamaria). Sein einstiger Herrschersitz gleicht einer Mischung aus Gefängnis und Vergnügungslokal. Königin Penelope (Juliette Binoche) lebt dort als Gefangene im eigenen Zuhause, belagert von arroganten und schurkischen Männern, die ihrerseits Anspruch auf den Herrschertitel erheben, allen voran Antinoos (Marwan Kenzari). Sie verhöhnen Penelopes und Odysseus’ Sohn Telemachos (Charlie Plummer) und schlagen sich auf Staatskosten die Bäuche voll. Die Königin solle gefälligst einen neuen Gatten aus ihren Reihen wählen. Doch Penelope hält die Männer hin und webt an einem Tuch. Sobald es fertig sei, werde sie einen von ihnen zum Mann nehmen. Allerdings trennt sie das neu Gewebte heimlich immer wieder auf.

Am Ende wird es zum Blutbad kommen, da folgt Pasolini durchaus der literarischen Vorlage. Aber weniger als wie ein perfide durchgeführter Plan, eher wie wie ein Krankheitsausbruch wird diese kühle Raserei vonstatten gehen -  es ist eben nie eine gute Idee, einem Veteranen mit posttraumatischem Belastungssyndrom eine scharfe Waffe in die Hand zu geben, in diesem Fall einen Bogen.

Befreit vom Kriegsgetöse

Odysseus wird auch hier die Nebenbuhler töten, und Penelope und er werden wieder zusammen sein. So weit, so bekannt. Dennoch ist Pasolinis Adaption des fast 3000 Jahre alten Epos „Odyssee“, das wie wenige andere zum kulturellen Erbe Europas gehört, von einer nie nachlassenden Spannung getragen. Das hat dramaturgische und schauspielerische Gründe. So konzentriert sich Pasolini auf Odysseus’ Psyche, auf den auch innerlich verwundeten Mann, der trauert, der sich schämt, der sich sehnt und der hofft. Wo Mario Camerini in seiner monumentalen Verfilmung „Die Fahrten des Odysseus“ (1954) noch Kirk Douglas im damals teuersten Farbfilm der Geschichte gegen den Zyklopen und andere Monster hatte kämpfen lassen, befreit Pasolini den Stoff vom Kriegsgetöse, von rollenden Augen und bleckenden Zähnen. Als wäre er selbst ein Held mit Wunderwaffe, befreit er die Story von sämtlichen Göttern und Ungeheuern.

Im Original schlicht als „The Return“ betitelt, ist „Rückkehr nach Ithaka“ ein intimes, inneres Drama zwischen Odysseus und seiner Frau, die zwanzig Jahre lang auf ihn gewartet hat. Pasolini entdeckt in der poetischen Essenz der Erzählung moderne Anknüpfungspunkte, ohne dass dies wie ein interpretatorischer Gewaltakt wirkt. Juliette Binoche und Ralph Fiennes verkörpern die beiden Leidenden mit einer so feinen Genauigkeit in Geste, Blick und Gebärde, dass das Epos sich zu einem Kammerspiel verdichtet. Sie statten ihre Charaktere bei aller äußeren Ruhe mit einem unterschwelligen Eskalationspotenzial aus, das sich am Ende entlädt und Heilsames möglich erscheinen lässt. Das Drehbuch, das Pasolini zusammen mit John Collee und Edward Bond verfasst hat, setzt auf sparsame, aber umso schärfere Dialoge. Jedes Wort scheint aus den Tiefen eines schon lange in Einsamkeit gesprochenen inneren Monologs aufzusteigen, analog zu jenem Rembrandt-Helldunkel, aus dem sich Gesichtszüge immer wieder aus der flackernden Schwärze der Innenräume modellieren.

Von einer zerrütteten Seele gebeugt

„Man sagt, alle Kriege werden so sein wie dieser, bis ans Ende aller Tage“, sagt zu Beginn einer der Männer am Feuer. Penelope hingegen fragt Odysseus – wie im Original –, warum Männer überhaupt in den Krieg ziehen, warum sie vergewaltigen und Frauen und Kinder umbringen: „Hast du das auch getan?“ Odysseus senkt den Kopf, und Ralph Fiennes lässt diese Gebärde aus seinem zwar muskulös gepanzerten, aber von einer zerrütteten Seele gebeugten Leib heraus eher fließen, als dass er sie vollführt. Pasolinis Odysseus stellt die heute wieder so drängende, zeitlose Frage des Kriegers nach dem Verstehen der eigenen Gräueltaten.

Karge Kostüme, ein Produktionsdesign, das nur fürs Nötigste sorgt: Schlichtheit ist Programm. Einzig die prätentiöse Stimmungsmalerei der Filmmusik von Rachel Portman zerstört die gespannte Intensität der Bilder von Kameramann Marius Panduru: in Rot- und Brauntönen gehaltene Interieurs, durchbrochen nur von befreienden, alles hinwegwaschenden Sequenzen von Meer und Weite, vom Rauschen der Möglichkeiten – und möglicher neuer Kriege, wie die allerletzte Einstellung subtil andeutet.

Die Heimkehr als Frage

Pasolini nimmt sich einige Freiheiten, etwa indem er Odysseus und seinen Sohn Telemachos als zunächst voneinander Entfremdete zeigt. Vor allem aber formuliert er Odysseus’ Heimkehr zu der Frage um: Welche Geschichte will sich eine Zeit von sich selbst erzählen, während sie beständig neu die Waffen schmiedet und auf Kriege zusteuert? 1954 klang bei Mario Camerini das Wunschdenken der europäischen Nachkriegsgesellschaft mit, wenn Odysseus inmitten der Massakrierten seinem Sohn gegenüber bedauert, am Tag seiner Rückkehr „den Tod in mein Haus gebracht zu haben“. Und wenn Telemachos darauf erwidert: „Es war nicht deine Schuld.“ Was für ein Traum: von der nachfolgenden Generation freigesprochen zu werden! Dennoch fürchtete Odysseus „die Rache der Seelen der Getöteten“.

Pasolinis Kriegsheimkehrer hingegen weiß, dass diese Seelen in ihm selbst eingekapselt sind. Weggeschlossen wie das einstige Ehebett, zu dem sich das Paar erst wieder Zugang verschaffen muss, hinter einer Geheimtür, am Ende einer Geheimtreppe, in einem Geheimgemach. Für die Heilung, das erzählt „Rückkehr nach Ithaka“, führt kein Weg am Inneren vorbei.