Denn in Juliettes Familie und im Dorf ist einiges anders, als es Juliette erinnert. Ihre Eltern, die sich schon in Juliettes Jugend trennten, sehen sich heute kaum noch und sind einander entfremdet. Ihre überschwängliche Mutter Nathalia (Noémie Lvovsky) betrachtet sich selbst als arrivierte Malerin und tendiert dazu, Juliette kleinzureden. Unlängst hat sie die New-Age-Bewegung für sich entdeckt und huldigt mit ihrem Lebenspartner einem bizarren Selbstverwirklichungstrip.

Ein ruhiger Pol

Juliettes ältere Schwester Marylou (Sophie Guillemin), die ihr als Kind sehr nahestand, ist verheiratet und hat zwei Kinder im Schulalter. Sie schmeißt den Haushalt und flitzt als fliegende Frisöse durch die Gegend. Marylou liebt ihre Kinder und ihren Mann, empfängt im Gewächshaus ihres Gartens aber gleichwohl ihren Lover. Die von Juliette verehrte Großmutter Simone (Liliane Rovère), die früher so etwas wie der ruhende Pol der quirligen Familie war, ist inzwischen dement und vor einigen Wochen in ein Seniorenheim gezogen.

Da man Omas Haus verkaufen will, wird es gerade geräumt. Bevor die Reste entsorgt werden, schaut auch Juliette vorbei. Während ihrer Jugend hat sie aus ihr heute nicht mehr bekannten Gründen ein Jahr lang bei der Großmutter gewohnt. Die hat ihr einige Erinnerungsstücke zur Seite gelegt. Bei ihrem Besuch lernt Juliette auch Pollux (Salif Cissé) kennen, den Untermieter der Großmutter. Er ist der einzige im Umfeld von Juliettes Familie, der nicht nur mit sich und seiner eigenen Situation beschäftigt ist, sondern für Juliette ein offenes Ohr und auch sonst noch einiges für sie übrighat.

„Juliette im Frühling“ ist eine Adaption der autobiografisch gefärbten Graphic Novel „Juliette: Gespenster kehren im Frühling zurück“ von Camille Jourdy, die von der Regisseurin Blandine Lenoir zusammen mit Jourdy und der Drehbuchautorin Maud Ameline in eine rasant-unterhaltsame Leinwandkomödie übersetzt wurde. Lenoir greift damit erneut ein weitgehend tabuisiertes (Frauen-)Thema auf. Denn Juliette ist nicht nur permanent traurig, sondern menstruiert auch nicht; ihre Depressionen hängen mit einem Trauma zusammen, das dazu führte, dass sie in ihrer Kindheit steckengeblieben ist.

Mit dem Stift in der Hand

Während der beiden Wochen nimmt Juliette zwar am quirligen Treiben ihrer Familie teil, zieht sich zwischendurch aber immer wieder zurück. Dabei beobachtet sie die anderen genau und lässt sie in flink erstellten Skizzen lebendig werden. Es ist ihre Art festzuhalten, was sich hinter der heiteren Geschäftigkeit ihrer Familie verbirgt und was nun nach Jahren des Schweigens unverhofft doch einen Weg an die Oberfläche findet. Darüber spricht man in Juliettes Familie aber nicht. Es dauert lange, bis Juliette und ihre Schwester eine Nacht gemeinsam in einem Zimmer verbringen und wie in ihrer Kindheit vor dem Einschlafen ins vertrauensvolle Gespräch finden.

Damit bricht nicht nur für Juliette, sondern auch für die anderen etwas auf, das ihr Zusammensein und ihr Leben verändern könnte.

„Juliette im Frühling“ erzählt keine stringente Geschichte. Der Film entwirft im flinken Wechsel zwischen verschiedenen Schauplätzen, Häusern und Wohnungen und in oft nur kurzen Begegnungen das puzzleartige Porträt einer einst glücklichen Familie, die durch ein traumatisches Erlebnis und ihr Unvermögen, dieses zu überwinden, auseinandergerissen wurde. Vieles wird in diesem Sittenbild nur angedeutet oder kurz angetippt. Die Hektik des Alltags entschärft akut aufflammende Krisen. Denn das Leben, so lautet die an sich so tröstliche, aber auch verstörende Botschaft, geht irgendwie immer weiter, egal was geschieht.

Was die Gesellschaft zusammenhält

Das ist keine tiefschürfende, aber auf Lebenserfahrungen beruhende Weisheit, die Lenoir mit Einfallsreichtum, feinem Humor und einem ausgeprägten Gespür für Situationskomik, menschschliche Schrullen und wankende Befindlichkeiten zu vermitteln versteht. Zu den berührendsten Einfällen gehört die Episode um das von Juliette und Pollux adoptierte Entenküken Norbert à l’Orange; die schrägste Idee sind die an Cosplay-Kostüme erinnernden Verkleidungen, in denen sich Marylous Lover zu den heimlichen Schäferstündchen schleicht, sich dann aber nicht scheut, am helllichten Tag zusammen mit Marylou im Adamskostüm durch den Garten zu tollen.

„Juliette im Frühling“ ist eine fein ziselierte, leise feministische Studie über das, was die Gesellschaft zusammenhält: die Familie und zwischenmenschliche Beziehungen. Der Umgang der Menschen untereinander und das soziale Umfeld, in dem solches geschieht. Der Film wiederum wird durch das Spiel und die Energie der Darsteller:innen zusammengehalten, die die etwas schrulligen Figuren zum Leben erwecken: Izïa Higelin, die Juliette mit leise rauchiger Stimme und lebhaften Blicken eine intensive Präsenz verleiht. Jean-Pierre Darroussin, der Léonard in charmanter Schusseligkeit als sensiblen Mann und Vater gibt. Noémie Lvovsky, die als exzentrische Mutter über sich hinauszuwachsen scheint. Sophie Guillemin in der Rolle der bodenständigen und zugleich hyperaktiven Marylou, die insgeheim von einem anderen Leben träumt. Die 90-jährige Liliane Rovère, welche in der Rolle der durch ihre Demenz sich zunehmend selbst abhandenkommenden Simone mit Chuzpe und Charme überzeugt. Nicht zuletzt der von Körperbau große und starke Salif Cissé, der Pollux als verständnisvollen Mann mit zarter Seele spielt, der für Juliette zum Freund und Retter wird.