Damit ihnen der möglicherweise Straffällige nicht durch die Lappen geht, nimmt die Zürcher Polizei White in Untersuchungshaft. Fortan setzen Staatsanwalt Rolf Rehberg (Max Simonischek) und Pflichtverteidiger Dr. Bohnenblust (Stefan Kurt) alles daran, dessen Identität zu klären. Doch White bleibt stur bei seiner Behauptung. Und selbst Menschen, die Stiller früher gut kannten oder sich gar seine Freunde nannten, sind sich bei einer Gegenüberstellung nicht sicher, ob White Stiller ist oder nicht. Selbst Stillers Frau Julika (Paula Beer), die nach einer Tuberkulose-Erkrankung ihre Karriere als Tänzerin aufgab und nun eine Ballettschule in Paris betreibt, weiß nach der Reise nicht, ob White ihr verschollener Gatte ist – oder nicht.
Identitätsfindung eines Mannes
Um Identität und Identitätsfindung also geht es in „Stiller“ – dem Roman und dem darauf beruhenden Film. Um die Selbstwahrnehmung eines Mannes und seine Selbstdarstellung und darum, wie seine Mitmenschen ihn wahrnehmen. Es geht um (innerliche) Subjektivität und (äußerliche) Objektivität, letztlich auch um die Frage, ob sich Menschen durch gewisse Ereignisse im Laufe der Zeit charakterlich verändern, ob sich solche Veränderungen allenfalls durch eigene Willenskraft herbeiführen lassen und inwiefern diese Veränderungen in ihrem Verhalten und Erscheinungsbild für andere sichtbar werden.
Das sind komplexe Fragen und Themen, die die Menschheit wohl seit jeher beschäftigen. Und sie dürften beim Erscheinen von Frischs Roman nur neun Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, in denen nicht nur jeder Einzelne, sondern die Gesellschaft insgesamt kriegerische Traumata verarbeiten und sich neu definieren musste, ebenso aktuell gewesen sein wie in der heutigen Zeit.
Frischs in Ich-Form gehaltener Roman hält mit Kritik an Zeitgeist und der Schweiz nicht zurück. Er ist über 400 Seiten stark und hat seinem bis dahin als Architekten tätigen Autor im Alter von 45 Jahren den Durchbruch als Literat gebracht. Der Roman wurde in 34 Sprachen übersetzt, millionenfach verkauft und steht noch heute auf der von „Die Zeit“ geführten Liste der hundert besten Bücher. Und er galt bisher – obwohl es verschiedene Versuche gab, ihn für die Leinwand aufzubereiten – als nicht verfilmbar.
Mit Stefan Haupt aber hat sich unter den Schweizer Filmemachern nun derjenige „Stillers“ angenommen, der sich verschiedentlich schon an historische Stoffe wagte, vor denen andere zurückschreckten. In seiner 2014 erschienenen Doku-Fiktion „Der Kreis“ schilderte er die Blütezeit und den Niedergang der Zürcher Schwulenorganisation gleichen Namens, die sich von 1943 bis 1967 vehement für die Rechte der Homosexuellen engagierte. Sein fünf Jahre später entstandener „Zwingli“ drehte sich um die letzten zwölf Jahre des Reformators Huldrych Zwingli und sein Wirken in der Stadt Zürich ab 1519.
Junge Kräfte drängen vorwärts
Und nun also „Stiller“. Ein Film nach einem Roman, dessen Erzählung sich nicht um konkrete historische Ereignisse dreht, der aber sehr präzise den Geist und Kolorit der Zeit schildert, in der er spielt. Junge Kräfte drängen in der Schweiz stürmisch vorwärts, die Bewusstwerdung über das (retrospektiv beurteilt) „zweifelhafte“ Nationalverhalten während der Kriegsjahre schwingt latent mit.
Anatol Stiller, von Sven Schelker in den Rückblenden des Films sehr konzis und einfühlsam gespielt, ist Bildhauer von Beruf und ganz Kind seiner Zeit. Er feiert berufliche Erfolge, kann sich an diesen aber nicht richtig freuen. Er hat etwas Zerbrechlich-Zartes an sich, das (vor allem) Frauen für ihn einnimmt, er kann aber auch impulsiv und hart sein, wirkt manchmal fast autistisch. Was ihn herunterreißt und bedrückt, unter seinem Freundeskreis aber als Anekdote kursiert, ist die Erzählung über seinen Freiwilligen-Einsatz im Spanischen Bürgerkrieg, bei dem er sich als unfähig erwies, Francos Anhänger aus dem Hinterhalt zu töten.
Die Handlung von Haupts Film umfasst außerdem die Zeit von Whites Inhaftierung bis zu seiner Freilassung. Sie dreht sich um die Ermittlungen um Whites Identität, zeigt White bei Befragungen durch Staatsanwalt und Pflichtverteidiger und bei mehrmaligen Treffen mit Julika, der man irgendwann erlaubt, ihn auch außerhalb des Gefängnisses zu treffen. Und dann ist da noch der Gefängniswärter Knobel (Marius Ahrendt), dem White immer wieder von seinem abenteuerlichen Leben in Amerika erzählt. Was vor Whites Inhaftierung geschah – Stillers Leben bis zu seinem Verschwinden und seine Beziehung mit Julika, aber auch Whites Vergangenheit in den USA – wird in Erzählungen und kurzen Rückblenden in den Film eingebracht. Den letzten, mit „Nachwort des Staatsanwalts“ überschriebenen Teil von Frischs Roman, der nach Whites Freilassung spielt, spart der Film aus.
Einem Publikum von heute zugänglich
An der Herausforderung, die Handlung eines über 400 Seiten langen Romans in 99 Minuten vollständig wiederzugeben, muss Haupts „Stiller“ scheitern. Geglückt ist es ihm aber, einen vor siebzig Jahren erschienenen, zeitgeistigen Roman und das darin Enthaltene einem (auch jüngeren) Publikum von heute zugänglich zu machen. Das liegt zum einen an der geschickten Umsetzung des Romans in einer filmisch verknappten Form – viele von Whites Erzählungen zum Beispiel sind im Film nicht zu finden. Und es liegt im Fall von „Stiller“, wo es um schillernde, nicht endgültig festgeschriebene und ineinander übergehende Identitäten geht, auch daran, wie diese im Film visualisiert sind.
Auch das hat Haupt, der mit Sven Schelker und Albrecht Schuch seine Protagonisten mit nicht nur vom Aussehen, sondern auch in ihrer schauspielerischen Energie vergleichbaren Darstellern besetzte, durchaus clever gelöst. Überhaupt sind die Schauspieler herausragend. Das gilt in weiteren Rollen nicht nur für Paula Beer, die als Julika im Zusammenspiel mit Schelker genauso überzeugt wie in den Begegnungen mit Schuch, sondern auch für Marius Ahrendt, der als Gefängniswärter Knobel White regelrecht an den Lippen hängt. Und es gilt für Marie Leuenberger in der kleinen Rolle der Staatsanwaltsgattin Rehberg, die mit Stiller eine kurze, aber heftige Affäre hat.
Ein ganz großer Wurf ist Stefan Haupts „Stiller“ nicht. Aber es ist zweifellos eine durchaus gelungene und sehenswerte filmische Adaption von Frischs vielleicht erfolgreichstem Roman.