Der Kuaför aus der Keupstraße

  Donnerstag, 20. Oktober 2016 - 19:00 bis - 21:00

Eintritt: frei
Veranstalter: Diakonisches Werk Celle - Arbeitskreis Ausländer
und das Forum gegen Gewalt und Rechtsextremismus  

Deutschland 2015
Dokumentarfilm mit Spielanteilen

Kinostart: 25. Februar 2015
98 Minuten
FSK: ab 0; f

Produktion: Herbert Schwering, Christine Kiauk    
Regie: Andreas Maus    
Buch: Andreas Maus, Maik Baumgärtner    
Kamera: Hajo Schomerus    
Musik: Maciej Sledziecki, Marion Wörle    
Schnitt: Rolf Mertler  
 

Darsteller:
Taner Sahintürk (Kuaför Özcan Yildirim), Attila Öner (Kuaför Hasan Yildirim), Sesede Terziyan (Frau des Kuaförs Özcan Yildirim), Aylin Esener (Frau des Kuaförs Hasan Yildirim), Sebastian Weber (Polizeilicher Ermittler)

 
Filmhomepage, Programmkino.deEPD-Film, alle Daten zum Film auf Filmportal.de  

ARD-ttt: Titel Thesen Temperamente vom 3. Februar 2015
Filmbeitrag des Bayrischen Rundfunks 

Der Filmdienst ist seit Jahren die führende deutsche Kinofilmfachzeitschrift. Da die Kritiken des Filmdiensts nicht ohne weiteres zugänglich sind, drucken wir sie hier ab, unabhängig ob sie positiv oder negativ ausfallen. Unser Ehrgeiz ist es nicht, Interessierte mit hohlen Versprechungen oder plakativen Etikettierunen wie "Kunstfilm" oder "besonderer Film"  ins achteinhalb zu locken. Die wenigstens Filme erhalten vom Filmdienst eine positive Kritik. Es ist daher durchaus so, dass Filme, die dort nicht so positiv "wegkommen", ansonsten durchweg positive Kritiken erhalten haben und wir auch einige Filme "klasse" gefunden haben, die vom Filmdienst kritisch bewertet worden sind. Es ist halt eine Meinung unter mehreren, aber in der Regel eine fundierte. Die höchste Auszeichnung ist das Prädikat "sehenswert", die Altersempfehlung ist eine pädagogische.

Kurzkritik Filmdienst
Am 9. Juni 2004 explodierte in einer türkischen Einkaufsstraße in Köln-Mülheim eine Nagelbombe. Obwohl sich fremdenfeindliche Motive aufdrängten, verdächtigte die Polizei jahrelang die Opfer, hinter dem Anschlag zu stehen. Der Dokumentarfilm beleuchtet Hintergründe und Auswirkungen des Anschlags, wobei er unterschiedliche erzählerische Ansätze wählt, unter denen der geduldig-stille Umgang mit den Opfern besonders hervorsticht. Während er sich in exemplarischen Tableaus und szenischen Zuspitzungen entfaltet, gelingen ihm überdies Glanzstücke teilnehmender Beobachtung.
(Teils O.m.d.U.)
Ab 14.


Trailer (146 Sekunden):



ausführliche Kritik Filmdienst

Die Keupstraße im Kölner Stadtteil Mülheim geriet 2004 in den Fokus der bundesdeutschen Medien, als am 9. Juni eine Nagelbombe vor dem Friseurladen von Özcan Yildirim explodierte. Viele Menschen wurden zum Teil schwer verletzt; wie durch ein Wunder kam niemand ums Leben. Wer hinter dem Anschlag steckte, wurde erst sieben Jahre aufgedeckt: die NSU. Bis zu diesem Zeitpunkt wollten die Behörden partout nichts vom rechtsradikalen Terrorismus wissen. Ganz im Gegenteil: Die Ermittler verdächtigten die mehrheitlich türkischstämmigen Opfer als Täter und unterwarfen sie jahrelang einer haarsträubenden polizeilichen Willkür. Noch heute sprechen die Betroffenen davon, dass zwei Bomben detoniert seien: „Die Nagelbombe war nur die erste; die andere, die größere war für uns, dass der Rechtsstaat versagt hat.“
Der Dokumentarist Andreas Maus ist den skandalösen Versäumnissen der Behörden nachgegangen und dabei auf eine Mauer des Schweigens gestoßen. Obwohl sich die Verhörprotokolle der Polizei in der Rückschau beschämend ausnehmen, will niemand die Verantwortung tragen oder sich gar bei den Opfern entschuldigen.
Dagegen setzt sich der Film zur Wehr. Er rekonstruiert nicht nur die Geschichte des Anschlags und seiner blinden Nicht-Aufklärung, sondern er gibt vor allem den betroffenen Menschen Raum und Gesicht. Zu den eindringlichsten Passagen gehört die „Rahmung“ mit stillen, konzentrierten Aufnahmen der Ladenbesitzer, die das Schlagwort „Keupstraße“ in eine lebendige Landschaft aus Personen, Orten und Tätigkeiten verwandeln. Die Ruhe und Besonnenheit der Inszenierung prägen auch die mit Schauspielern nachgestellten Verhörszenen, in denen der „Kuaför“ Yildirim und sein Bruder sowie deren Ehefrauen noch Jahre nach dem Anschlag von der Polizei drangsaliert wurden. Mit befremdlicher Taktik versuchten die Beamten die Eheleute gegeneinander auszuspielen und schreckten sogar vor dem Einsatz von zwei verdeckten Ermittlern nicht zurück. Besonders beunruhigt dabei der Gegensatz zwischen dem Aufwand, mit dem die Polizei jahrelang eine Verstrickung des „Kuaförs“ Yilderim belegen wollte (Stichworte: „Türsteherszene“, Schutzgelderpressung, organisierte Kriminalität) und der Hilflosigkeit, mit dem die polizeiliche Blindheit im Nachhinein kaschiert, negiert, abgestritten oder schlicht verdrängt wird.
Das inszenatorische Kalkül, „dokumentarische“ Szenen aus dem Salon von Yildirim mit bühnenhaften Elementen zu mischen, in denen beispielsweise die Keupstraße abstrakt nachgestellt wird, geht auf; der Film verliert sich dadurch nicht in einer reportagehaften Chronologie der Ereignisse oder in sensationsheischenden Reenactments, sondern entfaltet exemplarische Tableaus, Denk-Bilder, die sich in unterschiedlichste Richtungen weiterspinnen lassen. Die Porträts der realen Personen wie ihrer darstellerischen Repräsentanten, meist frontal fotografiert, schlagen einen wunderbaren Bogen zwischen Authentizität und exemplarischer Bedeutung, wie überhaupt der experimentelle Mut der Inszenierung für sich einnimmt. Wobei nicht alles gelingt; manches wirkt uneinheitlich, unausgegoren. Doch es gibt dokumentarische Lichtblicke, Glanzstücke teilnehmender Beobachtung, so aufschlussreich wie grundlegend. Dazu zählen insbesondere Szenen mit dem Bundespräsidenten Gauck. Als zum 10. „Jahrestag“ des Anschlages ein großes „Birlikte“ („Zusammenstehen“)-Bürgerfest gefeiert wurde, fand auch das Staatsoberhaupt ein paar verbindende Worte. Doch sein Besuch im Friseursalon bei Yildirim gerät zum peinlichen Medienspektakel, das nicht nur den hemdsärmeligen Präsidenten und seine Begleiter beschämt, sondern überdies ein entlarvendes Licht auf repräsentativ-symbolische Gesten wirft. Die Begegnung mit den unmittelbaren Opfern entpuppt sich in der Beobachtung durch Maus als ein von den omnipräsenten Medien geradezu erzwungener, künstlich inszenierter Moment, der als staatspolitische oder auch nur menschliche Anteilnahme nur knapp am Desaster vorbeischrammt, für Özcan Yildirim aber dennoch eine tiefe Genugtuung darstellt.

Josef Lederle, FILMDIENST 2016/4