Hedi Schneider steckt fest

Freitag, 10. Juli 2015 - 20:30

Eintritt: 5,00 €

Tragikomödie Deutschland/Norwegen 2015
Kinostart: 7. Mai 2015
92 Minuten
FBW: besonders wertvoll 

Regie/Buch: Sonja Heiss    
Kamera: Nikolai von Graevenitz    
Musik: Lambert    
Schnitt: Andreas Wodraschke  

Darsteller: Laura Tonke (Hedi Schneider), Hans Löw (Uli), Leander Nitsche (Finn), Melanie Straub (Viviane), Simon Schwarz (Arne Lange), Margarita Broich (Hedis Mutter), Matthias Bundschuh (Herr Schild), Rosa Enskat (Psychiaterin), Urs Jucker (Therapeut), Jakob Bieber (Verkäufer in der Zoohandlung), Alex Brendemühl (NGO-Chef), Kathleen Morgeneyer (Kollegin Lindström)

 

FilmhomepageProgrammkino.de, Wikipedia, alle Daten zum Film auf Filmportal  
Empfehlung auf der Webseite der Panikattacken-Selbsthilfe

Kurzkritik Filmdienst:

Eine Frau, die mit Lebensgefährten und Sohn ein äußerlich glückliches, von vielen bürgerlichen Zwängen freies Leben führt, wird völlig unerwartet von Angst- und Panikattacken gequält. Als ihr Familie, Freunde und Therapeuten nicht weiterhelfen können, beginnt sie, ihr Leben eigenständig zu hinterfragen, und entdeckt, dass immer etwas fehlt, worauf sie mit Leistungsverweigerung reagiert. Im Gewand eines bisweilen selbstironisch gefärbten Beziehungsfilms entfaltet sich ein komisch-absurdes Drama, das wie beiläufig von den seelischen Abgründen der Gegenwart handelt und mit viel Sinn für intime Momente lebensnahe Dialoge und tragikomische Kapriolen aufsammelt. - Sehenswert ab 16. 

Trailer:


vierminütige Filmbesprechung in ZDF "Neu im Kino":

ausführliche Kritik Filmdienst

Muss ein Film über Angststörungen und Depressionen traurig sein? Oder muss er als Komödie daher kommen, um die Schranke der öffentlich-rechtlichen Geldgeber zu passieren? Der neue Film von Sonja Heiss, die sich bereits in „Hotel Very Welcome“ den psychischen Befindlichkeiten desorientierter Rucksacktouristen mit feinster Beobachtungsgabe widmete, versucht den Spagat. Es dauert eine Weile, bis man versteht, warum ihre kindlich verspielte Heldin von Panikattacken heimgesucht wird. Ausgerechnet im Aufzug, dem klassischen Ort für unvorhergesehene Luftnot, erweist sich die Mittdreißigerin mehr als entspannt. Als sie auf dem Weg zum Bürojob darin stecken bleibt, wirkt sie nicht etwa nervös, sondern ist nur gelangweilt.
Um die Zeit zu überbrücken, verwickelt sie den Mann am ausgelösten Alarmknopf in indiskrete Gespräche und ist sichtlich erstaunt, als er nicht mitspielen mag. Umso mehr nimmt sie die Krise ihres nörgelnden Arbeitskollegen mit. Eines Morgens ist der weg. Weil er drohte, aus dem Fenster zu springen, ließ ihn der Chef in die Psychiatrie einliefern. Danach lösen sich bei der von Laura Tonke mit umwerfender Lust an der Verweigerung von Erwartungen gespielten Hedi die Gewissheiten des Alltags urplötzlich auf. Und das, obwohl sie auf den ersten Blick ein harmonisches Leben mit Mann und Sohn führt.
Die Panik kommt schleichend. Erst zaghaft in Gegenwart des fordernden Chefs. Dann massiv zu Hause als körperlicher Totalkollaps. Im Krankenhaus konstatiert man keinerlei organische Ursachen und rät zu einer Auszeit. Aber gerade die will sich nicht mehr einstellen, denn jeden Moment könnte der nächste Anfall heimtückisch zuschlagen. Da reicht es auch nicht, dass Hedis Mann ihr geduldig zur Seite steht und auf sein lange geplantes Hilfsprojekt in Afrika verzichtet, um ihr dabei zu assistieren, wenn sie sich nicht mehr über die Türschwelle traut.
Während Hedi in der Angst vor der Angst versinkt, versucht das von der Regisseurin verfasste Drehbuch, komische Volten aus der Absurdität der Erkrankung zu schlagen. Das gelingt nicht immer. Als Hedi sich mit Antidepressiva und Beruhigungsmitteln vollstopft und einen glücksseligen Nachtspaziergang absolviert, was schon deswegen auf einen all zu leicht konstruierten Gag schielt, weil die einen Medikamente einen Kranken erst nach Wochen stabilisieren und eben nicht auf Knopfdruck euphorisieren, während die anderen nur dämpfen, wundert man sich gar nicht mehr, als der Ausflug diesmal zur Abwechslung in einem Brechanfall endet.
Aber mitunter stellt sich doch der selbstironische Ton früherer Woody-Allen-Filme ein, bei den unvermeidlichen Gesprächskollisionen mit rechthaberischen Psychologen etwa, oder wenn sich Hedi mit Konfrontationstechniken selbst therapiert und statt des drohenden Angst-Feindes in der U-Bahn ihren Mann verprügelt. Der ist ohnehin nicht zu beneiden. Schließlich muss er jetzt Haushalt, Kind und Beruf allein schmeißen. Sein Ego zurückstecken und eine um sich selbst kreisende Schwarzseherin ertragen. Kein Wunder, dass er sich mit einem Seitensprung tröstet, als Hedi auch noch den ungeliebten Geldjob hinschmeißt.
Allmählich schälen sich im Gewand des Beziehungsfilms die Gründe für die scheinbar unerklärlichen Spannungen heraus. Hinter der Fassade von Hedis weltfremder Unbekümmertheit schlummert seit langem das tonnenschwere Gefühl des Defizits. Nicht zuletzt auch wegen der Wünsche der Außenwelt, ihrer Mutter etwa, die enttäuscht darüber ist, dass ausgerechnet ihre Tochter „so etwas bekommt“. Offenbar sah sie den Nachwuchs stellvertretend zum Höheren berufen. Ihr Mann, der sich selbst als altruistischer Menschenfreund versteht, sucht den Sinn des Lebens in der Eindeutigkeit von Hilfeleistungen, etwa in Übersetzungen für Taubstumme oder im Schulbau in der Dritten Welt. Aber das Elend in seinen eigenen vier Wänden bleibt ihm fremd. Er sucht nicht nach den Ursachen, sondern nur nach schnellen Lösungsansätzen, um das lästige Problem aus der Welt zu schaffen.
Irgendetwas fehlt immer in Hedis langsamem Leben aus Wahlfreiheit und Selbstoptimierungszwang. Funktionieren möchte sie nicht mehr. Aber was stattdessen? Sich nackt im skandinavischen Seeschlamm zu wälzen, wäre durchaus eine Alternative. Genau das tut sie im Finale mit ihrer wieder näher gerückten Kleinfamilie. Das Hippie-Idyll lässt ihre Augen strahlen. Allerdings nur für wenige Stunden. Dann ist das Grübeln wieder an der Reihe. So lange der Wechsel der Stimmungen vertraglich auf Stundenbasis festgelegt ist, wie es Hedi mit ihrem Mann vereinbart, lässt sich die unbefriedigende Existenz erst mal aushalten. Und damit auch das Unbehagen einer von linksliberalen Pädagogen geprägten Generation, die, wenn sie die Versprechungen der Selbstverwirklichung jenseits konformer Karriereentwürfe ernst genommen hat, mit den Enttäuschungen der neoliberalen Turbo-Gegenwart nur schwer umzugehen weiß.
Sonja Heiss ist es wunderbar gelungen, fast wie beiläufig in die seelischen Abgründe der Gegenwart zu schauen, wie sie sich beispielsweise in den Depressionsstatistiken niederschlagen. Der Anspruch auf ein perfektes Leben produziert Scherben. Die Regisseurin sammelt verlässlich und mit Sinn für intime Momente lebensnahe Dialoge und tragikomische Kapriolen auf. Hoffentlich dauert der nächste Wurf nicht wieder sieben Jahre. Seeschlamm hilft bestimmt.
Alexandra Wach, FILMDIENST 2015/9