Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass ausgerechnet im Augenblick der tiefen Krise das Papsttum auf der Leinwand eine regelrechte Konjunktur erlebt. Der inhaltliche Bogen reicht dabei von Nanni Morettis milder Komödie „Habemus Papam“ (2011) bis zur ästhetizistischen Dekonstruktion in Paolo Sorrentinos „The Young Pope“-Serie (2016/2019), wo die Insignien päpstlicher Macht- und Prachtentfaltung lustvoll instrumentalisiert werden. Zu diesen menschelnd-verspielten Dramatisierungen gesellt sich demnächst der Film zum Papstwechsel, „Die zwei Päpste“ (2019) von Fernando Meirelles (ab Dezember im Kino und auf Netflix), passend zu Wim Wenders’ filmischer Enzyklika „Ein Mann seines Wortes“ (2018), der Papst Franziskus unkommentiert die Bühne überlässt.

Eine kritische Revision

Jeder dieser Filme nutzt die Figur des Papstes als markante, fast archetypische Größe, die aber eigentümlich unhinterfragt bleibt. Einen spürbar anderen Ton schlägt hingegen der Dokumentarfilm „Verteidiger des Glaubens“ von Christoph Röhl an, der sich dezidiert kritisch mit dem Pontifikat und der Theologie des emeritierten Papstes Benedikt XVI. auseinandersetzt.

Insbesondere den von Ratzinger über drei Jahrzehnte verantworteten Umgang mit massiven Fällen von sexuellem Missbrauch durch Priester und Ordensangehörige führt der Film auf ein hierarchisch-„triumphierendes“ Kirchenbild und dessen theologisches Fundament zurück; um die „Heiligkeit“ und den Ruf der Institution zu retten, wurden Vorfälle systematisch vertuscht und warnende Stimmen ausgegrenzt, die eine Untersuchung systemischer Zusammenhänge zwischen Missbrauch und klerikalem Narzissmus anmahnten.

Biografische Spuren

Der ungewöhnliche Fokus von „Verteidiger des Glaubens“, der durchaus mit Respekt und filmischer Empathie die Biografie und zentrale Wesenszüge von Joseph Ratzinger nachzeichnet, hat mit Röhls eigener Biografie zu tun, der als Tutor an der reformpädagogischen Odenwaldschule die Mechanismen des Mitwissens und Wegschauens hautnah miterlebte. Wie sich die Abwehrreflexe gegen Kritik immunisieren und alle Übel nach außen projiziert werden, analysierte der Filmemacher schon in den Odenwald-FilmenUnd wir sind nicht die Einzigen“ (2010) und „Die Auserwählten“ (2013).

Über dem Missbrauchsskandal am Canisius-Kolleg in Berlin trat dann die katholische Kirche als strukturell verwandte, gesellschaftlich aber wesentlich wirksamere Echokammer in seinen Blick. Bezeichnenderweise endet „Verteidiger des Glaubens“ deshalb auch nicht mit Ratzingers Flucht nach Castel Gandolfo, sondern mit der Reise seines Nachfolgers nach Irland, wo staatliche Untersuchungen ein schreckliches Ausmaß von Missbrauch, Doppelmoral und Vertuschung aufdeckten. Die Forderungen auf den irischen Plakaten, „#End it now“, und „#No more cover-up“, keine Vertuschung mehr, macht Röhl sich zu eigen.

Der „Augustinist“ und die „1968er“

Dennoch ist „Verteidiger des Glaubens“ nicht auf politische Agitation oder polemische Kirchenkritik aus. Die Bilderbuchkarriere und das theologische Denken Ratzingers dienen eher einer exemplarischen Analyse, warum ein anfänglich als fortschrittlich geltender Theologieprofessor sich in einen erzkonservativen Zensor verwandelt, der sich als „Augustinist“ primär Prinzipien verpflichtet fühlt, für die An- und Widersprüche der unmittelbaren Gegenwart aber kaum ein Gespür hat.

Die „1968er“ spielen in Ratzingers Entwicklung offensichtlich eine wichtige Rolle, vor deren Provokationen der junge Dogmatik-Professor aus Tübingen ins wesentlich ruhigere Regensburg auswich und die auch noch ein halbes Jahrhundert später als Quelle allen Übels durch sein Denken geistern. Allerdings gibt sich der Film weit mehr Mühe, die Kindheits- und Jugenderfahrungen Ratzingers inmitten eines kleinbürgerlich-barocken Katholizismus zum Klingen zu bringen, in denen Heimat, familiäre Geborgenheit und die liturgische Verehrung des Heiligen harmonisch zusammenflossen. Die Verwendung aus der Zeit gefallener Symbole wie etwa die roten Papstschuhe oder die Vorstellung einer heiligen Ordnung, die das Chaos in Schranken weist, wurzeln, so der Film, gleichermaßen in den frühen Kirchenerfahrungen.

Wie Rauch durch die Ritzen

Die filmische Argumentation stützt sich dabei auf eine Kombination aus unbekannten Archivmaterialien und vielen Gesprächspartnern, unter denen den Theologen Wolfgang Beinert und Hermann Häring die Rolle zufällt, Ratzingers Denken näherzubringen. Das funktioniert auf anekdotisch-erzählerischer Ebene recht gut, lotet aber nicht allzu tief, wie generell ein Missverhältnis zwischen zahllosen Wortbeiträgen und ihrer erzählerischen Integration besteht.

Dennoch zeichnet sich eine Grundfigur in Ratzingers Denken ab, in der die hierarchisch von oben nach unten durchstrukturierte Kirche als Bollwerk gegen die „Diktatur des Relativismus“ mit allen Mittel verteidigt werden muss. Dazu zählt nicht nur ein an die Stasi erinnerndes System aus Kontrolle, Angst und Vorsicht, zu dem die Glaubenskongregation unter Ratzinger ausgebaut wurde, sondern auch die Figur des Teufels, der „wie Rauch durch die Ritzen ins Innere“ (Johannes Paul II.) zu dringen versucht oder „uns mit Dreck beschmeißt“, wie Benedikt XVI. die Enthüllungsflut über sexuelle Übergriffe von Klerikern kommentierte. Dieser verquere Satz wirft ein bezeichnendes Licht auf die skandalöse Politik des Vatikans, Fehler und Schwächen der eigenen Institution zu ignorieren oder zu vertuschen, wie etwa den prominenten Fall des Mexikaners Marcial Maciel, Gründer der „Legionäre Christi“, dessen selbstherrliches Doppelleben Ratzinger erst Einhalt gebot, als er sich bei der Feier seines 60. Priesterjubiläums über den Vatikan lächerlich machte: Zur Ehrung in Rom brachte der Priester Frau und Tochter mit.

Eine ontologische Differenz

Der Skandal um Maciel nimmt in „Verteidiger des Glaubens“ auch deshalb so breiten Raum ein, weil die Mitte der 20. Jahrhunderts gegründete religiöse Gemeinschaft wegen ihres stramm konservativen Zuschnitts und ihres enormen Erfolgs als Zukunftsmodell galt; die „Fehltritte“ ihres elitären Leiters nahm man in Kauf, seine Opfer kamen entweder überhaupt nicht in den Blick oder wurden skrupellos zum Schweigen gebracht. Genau das ist für Röhl der archimedische Punkt: der blinde Fleck einer Institution, die so mit sich und ihrer Selbstverherrlichung beschäftigt ist, dass sie das Leid der Opfer ignoriert oder – schlimmer noch – der eigenen Ideologie unterordnet. Dazu zählt ganz offensichtlich auch ein Verständnis des Priestertums, das nicht nur mit sexueller Enthaltsamkeit und Gehorsam gegenüber dem Bischof verbunden ist, sondern durch die Weihe auch eine veränderte Wirklichkeit begründet, eine „ontologische Differenz“ gegenüber Normalsterblichen.

Als Gegengewicht zu solchen Ideen einer voraufklärerischen Welt mobilisiert „Verteidiger des Glaubens“ eine Reihe aufrechter Christenmenschen wie die Ex-Nonne Doris Wagner, den Rektor des Canisius-Kollegs Klaus Mertes oder den vom Vatikan zum Schweigen verurteilten Redemptoristen Tony Flannery, die über ihrer schmerzhaften Erfahrungen mit der Kurie reflektieren und ansatzweise die Konturen eines zeitgemäßen Christentums skizzieren, in denen sich Menschen „auf Augenhöhe begegnen“ und „das Zuhören an die Stelle des Befehlens“ tritt.

Mit und ohne Christusfigur

Für das Scheitern von Papst Benedikt XVI., das in Flannerys Augen auch das Scheitern einer Ära ist, findet „Verteidiger des Glaubens“ ein prägnantes Bild: den Abflug des scheidenden Papstes nach Castel Gandolfo. Das Bild des Hubschraubers über den Dächern von Rom ruft einen anderen Film ins Gedächtnis, „Das süße Leben“ (1959) von Federico Fellini, in dem in der Eröffnungssequenz ebenfalls ein Helikopter über den römischen Dächern schwebt. Nur dass dabei eine Christus-Figur an dem Fluggerät hängt, was bei dem Reporter Marcello (Marcello Mastroianni) und anderen Party-People mit einer aufgeregten Mischung aus Irritation und Verheißung quittiert wird. Wo Fellini und die katholische Kirche Anfang der 1960er-Jahre in eine spannende Zukunft aufbrachen, schwebt Benedikt XVI. in „Verteidiger des Glaubens“ dem Vergessen entgegen. Zurück bleibt sein Nachfolger mit den wütenden Forderungen der Iren nach „Truth, Justice, Love“.