Überleben in Neukölln

  Dienstag, 05. Juni 2018 - 20:00 bis Dienstag, 05. Juni 2018 - 21:30

Eintritt für beide Filme 5 Euro.

In Kooperation mit der RWLE Möller Stiftung und dem Boman Museum.

Deutschland 2017

Kinostart: 23. November 2017
82 Minuten

Produktion: Rosa von Praunheim · Jens Stubenrauch
Regie: Rosa von Praunheim · Markus Tiarks
Buch: Rosa von Praunheim
Kamera: Elfi Mikesch · Oliver Sechting · Markus Tiarks · Thomas Ladenburger
Schnitt: Mike Shephard
Musik: Juwelia · Jose Promis · Andreas M. Wolter 

Filmseite des Verleihs missingFILMS, alle Daten zum Film auf Filmportal.de

Kritik von Silvia Hallensleben in EPD-Film (4 von 5 Sternen)
Kritik von Michael Meyns auf Programmkino.de
Kritik von Harald Mühlbeyer auf Kino-Zeit.de
Kritik von Susanne Lenz in der Frankfurter Rundschau
Kritik von Oliver Armknecht auf Film-Rezensionen.de
Kritik von Gunda Bartels im Tagesspiegel

Gespräch mit Rosa von Praunheim auf SWR2 (6 Minuten)


Kurzkritik
Filmdienst
Dokumentarisches Porträt des Berliner Stadtteils Neukölln und einiger seiner schillernden Bewohner. Unter ihnen befinden sich der Travestiekünstler Stefan Stricker alias Juwelia, die 89-jährige Johanna Wilfriede Richter, die vor 40 Jahren hierher zog, um mit einer Frau zu leben, die „Polittunte“ Patsy l’Amour laLove sowie das Frauentrio „Die Rixdorfer Perlen“, das in seinen kabarettartigen Theaterstücken „Neukölln verteidigt“. Eine Ansammlung anrührender, bewegender und lustiger Figuren und Geschichten, die freilich statt der im Filmtitel angedeuteten Überlebensfrage eher allseits bekannte Gentrifizierungsfloskeln widergibt.
von Esther Buss

Trailer (130 Sekunden):

 

ausführliche Kritik Filmdienst
Der Maler, Zeichner und Travestiekünstler Juwelia, mit bürgerlichem Namen Stefan Stricker, ist nebenbei auch ein Chronist des sich wandelnden Stadtteils Neukölln. „In Berlin, da liegt Neukölln. Ach wie schön, ach wie hip, ach wie trendy“, heißt es beispielsweise in einem seiner Songs. Oder: „Früher war Bratwurst und heute ist Champagner.“ Juwelias Chansons sind ein Mix aus Berliner Kiezvokabular, französischen Erotizismen und Glamour-Englisch. Zu hören sind sie unter anderem in der Galerie Studio St. Das ist ein im Reuterkiez gelegener Salon, „eine Art Atelier, eine Factory, jeder kann was machen, ein open Salon“, den Stricker seit 2006 betreibt. Der im hessischen Korbach geborene Künstler ist die Hauptfigur in Rosa von Praunheims Film „Überleben in Neukölln“ – ein Film, der den vorherrschenden Neukölln-Klischees – bärtige internationale Hipster, macho-mäßige arabische Jugendgangs – vor allem Porträts von Persönlichkeiten aus der (teils migrantischen) LGBT-Szene Neuköllns entgegenstellt. Die Überlebensfrage zieht sich dabei durch alle Biografien. In keinem Berliner Stadtteil sind in den letzten Jahren die Mieten so rasant gestiegen wie im ehemals als „Problemviertel“ berüchtigten Neukölln. Schon als Jugendlicher begann Stricker, sich zu schminken und Frauenkleider zu tragen; fast hätte man ihn dafür in die Psychiatrie geschickt. Heute macht er über die Nicht-Definierbarkeit seiner sexuellen Identität kokette Witze: „Ich bin ein weiblicher Mann... ein Hermaphrodit, oh nein!!!... Eine gelegenheitstranssexuelle Gelegenheitsprostituierte.“ Sein langjähriger Lebensgefährte protestiert: „Du bist doch nicht transsexuell!“ Andere Protagonistinnen sind „Die Rixdorfer Perlen“, ein weibliches Theatertrio, das mit Alt-Berliner-Liedern und kabarettistischem Verve Neuköllner Traditionen, etwa die lokale Trinkkultur, verteidigt. Oder der kubanische Sänger und Travestiekünstler Joaquin La Habana, der nicht zum ersten Mal in einem Film von Rosa von Praunheim auftritt; so spielte er schon in „Stadt der verlorenen Seelen“ und „Horror Vacui“. Auch die „Polittunte“ Patsy l’Amour laLove, die gerade an einer Doktorarbeit zur Schwulenbewegung der 1970er-Jahre schreibt und im legendären SchwuZ, das vor einigen Jahren von Schöneberg nach Neukölln gezogen ist, regelmäßig Abende veranstaltet, zählt zu den Porträtierten, sowie der von den Syrern Dani Alor und Alaa Zaitouna geleitete „Chor der Geflüchteten“. Eine besonders anrührende Figur ist die 89-jährige Johanna Wilfriede Richter, die im Reuterkiez „Joe“ genannt wird. Nach dem Ende ihrer Ehe ging sie nach Berlin und zog in die Sanderstraße; „Da war ich wieder wer.“ Wilfriede Richter verliebte sich in eine Frau, mit der sie 23 Jahre glücklich zusammenlebte; inzwischen ist sie wieder glücklich allein. Auch sie beobachtet die Veränderungen in ihrem Stadtteil mit Sorge: „Jetzt kommen die feinen Leute.“ Wiederholt fallen die gängigen Begriffe des Gentrifizierungsdiskurses: steigende Mieten, Verdrängung, Hipness etc. Wirklich neue Perspektiven zu stadtpolitischen Fragen wirft der Film aber nicht auf, noch begibt er sich auf die im Titel so explizit angesprochene existentielle Ebene. Und natürlich stehen auch die Protagonisten des Films, zumeist Künstler, die mit ihrem kreativem Potenzial Neukölln mitaufgewertet haben, nicht außerhalb dieser Entwicklung, wie der Film unterschwellig suggeriert. Ärgerlich ist auch, dass einige kurz abgehandelte Protagonistinnen, darunter eine afro-amerikanische Künstlerin aus Baltimore und eine lesbische Sängerin aus Syrien, offensichtlich nur unter dem Vorwand der Diversität in den Film gelangt sind. Man würde sich wünschen, dass von Praunheim ihnen mit dem gleichen aufrichtigen Interesse begegnet wie dem flamboyanten Stefan Stricker.

Esther Buss