Certain Women (unser Film des Monats August)

  Freitag, 11. August 2017 - 20:30 bis - 22:30

Eintritt: 5,00 €

USA 2016
Kinostart: 2. März 2016
107 Minuten
FSK: ab 0; f

Regie/Drehbuch: Kelly Reichardt 
Vorlage: Maile Meloy (Stories)
Kamera: Christopher Blauvelt
Musik: Jeff Grace
Schnitt: Kelly Reichardt

Darsteller:
Laura Dern (Laura Wells), Kristen Stewart (Beth Travis), Michelle Williams (Gina Lewis), Lily Gladstone (Jamie), James LeGros (Ryan Lewis), Jared Harris (William Fuller), René Auberjonois (Albert), Sara Rodier (Guthrie Lewis), John Getz (Sheriff Rowles), Edelen McWilliams (Fullers Frau)
Peripher, 1,85:1, DVD 

 
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Kritik von Katja Nicodemus in der "Zeit
Kritik von Nadine Lange im Tagesspiegel
Kritik von Lukas Stern im Spiegel
Kritik von Cosima Lutz in der "Welt"
Videokritik von Susan Vahabzadeh in der Süddeutschen Zeitung online

Kritik von Dominic Schmid im Schweizer Filmbuelletin
Zwei Kritiken im "Guardian": eins und zwei

Der Filmdienst ist seit Jahren die führende deutsche Kinofilmfachzeitschrift. Da die Kritiken des Filmdiensts nicht ohne weiteres zugänglich sind, drucken wir sie hier ab, unabhängig ob sie positiv oder negativ ausfallen. Unser Ehrgeiz ist es nicht, Interessierte mit hohlen Versprechungen oder plakativen Etikettierunen wie "Kunstfilm" oder "besonderer Film"  ins achteinhalb zu locken. Die wenigstens Filme erhalten vom Filmdienst eine positive Kritik. Es ist daher durchaus so, dass Filme, die dort nicht so positiv "wegkommen", ansonsten durchweg positive Kritiken erhalten haben und wir auch einige Filme "klasse" gefunden haben, die vom Filmdienst kritisch bewertet worden sind. Es ist halt eine Meinung unter mehreren, aber in der Regel eine fundierte. Die höchste Auszeichnung ist das Prädikat "sehenswert", die Altersempfehlung ist eine pädagogische.

Kurzkritik Filmdienst
Drei ebenso leise wie präzise inszenierte Geschichten über vier Frauen in Montana, erzählt nach Kurzgeschichten der Schriftstellerin Maile Meloy. Die Aufmerksamkeit gilt dabei insbesondere der Vereinzelung der Frauen inmitten von Landschaft und Raum. Unaufdringlich treten in den nur lose miteinander verknüpften Erzählungen die Bruchlinien zwischen Tradition und modernem Life Style, zwischen amerikanischer Mythologie und der unausweichlichen Realität der Lebensverhältnisse hervor. -
Sehenswert ab 14.
Kathrin Häger, FILMDIENST 2017/3

Der Trailer ist zwar mit Untertiteln, bei uns läuft er aber synchronisiert (117 Sekunden):



ausführliche Kritik Filmdienst
„Certain Women“ beginnt mit einem ur-amerikanischen Bild: einer Eisenbahn auf ihrer Fahrt durch eine unberührte Landschaft. Aus der Tiefe des Hintergrunds tuckert sie heran und durchmisst diagonal das statische, von Bergen gerahmte Bild. Das dauert. Es ist einer dieser schweren, ewig langen und laut ratternden Güterzüge, wie sie James Benning in „RR – Railroad“ auf die Leinwand gebannt hat und die ein Gefühl vermitteln für das, was Zeit und Raum jenseits der urbanen Metropolen Amerikas bedeuten.

Es herrscht ein gemächliches, etwas träges Tempo in Livingston, Montana, dem Schauplatz der nur sehr lose verknüpften Geschichten über vier Frauen, die Regisseurin Kelly Reichardt von Kurzgeschichten der Schriftstellerin Maile Meloy („Both Ways Is the Only Way I Want It“) adaptiert hat. Und auch die Erzählung selbst hat keine Eile. Sie lässt aus, erklärt wenig, überlässt sich ganz den Figuren, den überwältigenden Landschaften und den geradezu archetypischen Räumen. Mit angestaubten Hotels und Diners, den menschenleeren Straßen und Parkplätzen wirkt der auf körnigem 16mm gedrehte Film vordergründig aus der Zeit gefallen. Seine visuellen Referenzen finden sich tatsächlich weniger im Hier und Jetzt als in den 1960er- und 1970er- Jahren: bei den Fotografien von Stephen Shore etwa und den Porträts der Malerin Alice Neel. Dabei ist „Certain Women“ aber ganz Gegenwartsfilm – es ist nur eine andere, weitaus peripherere Gegenwart als die, der sich der US-amerikanische Independentfilm gewöhnlich zuwendet.

Auf unprogrammatische Weise – und abseits der gängigen Erzählmuster der Milieustudie – geht es um gesellschaftliche Begrenzungen, sozioökonomische Differenzen und Geschlechterrollen. Und um die Bruchlinien zwischen Tradition und modernem Life Style, zwischen amerikanischer Mythologie und der unausweichlichen Realität der Lebensverhältnisse.

Was die Anwältin Laura, die sich in einer Ehekrise wiederfindende Gina und die Pferdepflegerin Jamie miteinander verbindet, ist kein gemeinsames Schicksal, keine kausale Verkettung. Es ist vielmehr die Atmosphäre der Vereinzelung und Einsamkeit, die die Figuren gleichsam umhüllt. Reichardt erzählt darüber über Blicke – es sind Blicke voller Erwartung und unerfüllter Hoffnung, Blicke, die nicht oder „falsch“ beantwortet werden, Blicke, denen ausgewichen wird, aber auch über die Leere der Orte und Räume, denen trotz aller Weite immer etwas leicht Drückendes, Begrenztes anhaftet.

Laura, die mit einem anhänglichen Klienten zu tun hat, der an seiner Arbeitsrechtklage verzweifelt, scheint zu ihrem Hund noch das vertrauteste Verhältnis zu haben. Ihre Affäre (mit Ginas Mann) hat etwas seltsam Schlaffes, Lebloses, einen Unterton von Depression. Gina ist die einzige Figur, die in einem familiären Umfeld situiert ist, doch aus der Komplizenschaft von Mann und pubertierender Tochter bleibt sie ausgeschlossen.

An anderer Stelle verschafft sie sich allerdings Zutritt und das durch pure Hartnäckigkeit. Mit ihrem Mann Ryan will sie ein Wochenendhaus mitten im Wald bauen, wofür sie gerne die Natursandsteine des alten Nachbarn hätte. Das Hipster-Paar (die Tochter heißt Guthrie!) mag es gerne ursprünglich und authentisch; die Steine seien „von Pionierhänden gemeißelt“, meint Ryan halbironisch. Nur möchte er nicht die Rolle des „bad cop“ übernehmen. Sobald Widerspruch zu erwarten ist oder auch nur ein Gefühl von Unwohlsein oder Schuld, schickt er seine Frau vor.

Für die junge Jamie dagegen, eine Native American, ist das Leben kein Life Style, den man sich auswählt. Sie ist mit Pferden groß geworden, also arbeitet sie als Rancherin in dem winzigen Ort Belfry. Abends schiebt sie ihr Essen in die Mikrowelle und schaut fern. Eher zufällig strandet sie in einem Abendschulunterricht und verliebt sich in die Lehrerin Beth, eine angehende Anwältin, die sich aus dem sozialen Milieu ihrer Arbeiterklasse-Familie hochgearbeitet hat und für den tristen Job vier mühsame Autostunden auf sich nimmt. Nach dem Unterricht begleitet sie Beth in ein Diner, Beth bestellt Suppe, Hamburger, Pommes und Eis, Jamie trinkt das kostenlose Wasser, erst später holt sie sich einen abgepackten Burger aus dem Kühlregal der Tankstelle.

Man kennt diese Art von „Loner“-Figuren eher aus dem „Männerfilm“. Kelly Reichardt arbeitet ganz im Stillen und ohne ideologischen Auftrag an einer Verschiebung. Etwas tröstet immerhin über die Einsamkeit der Frauen hinweg: Es entsteht eine subtile Verbindung zwischen den „certain women“, mögen sie auch nichts von der Existenz der anderen wissen.
Esther Buss, FILMDIENST 2017/5