Manchester by the Sea (unser Film des Monats April)

  Freitag, 28. April 2017 - 20:30 bis - 22:20

"Manchester by the Sea" erhielt eine große Anzahl von Nominierungen und Auszeichnungen. Hier eine Auswahl.
Ihm wurden bisher 110 Auszeichnungen zuerkannt bei weiteren 227 Nominierungen.
Alle Auszeichnungen und Nominierungen auf IMDB

Eintritt: 5,00 €

USA 2016
Kinostart: 19. Januar 2017
138 Minuten
FSK: ab 12; f
FBW: Prädikat besonders wertvoll
 
Regie/Drehbuch: Kenneth Lonergan
Kamera: Jody Lee Lipes
Musik: Lesley Barber
Schnitt: Jennifer Lame

Darsteller:
Casey Affleck (Lee Chandler), Michelle Williams (Randi), Kyle Chandler (Joe Chandler), Gretchen Mol (Elise Chandler), Lucas Hedges (Patrick Chandler), Tate Donovan (Hockey-Coach), C.J. Wilson (George), Kara Hayward (Silvie), Erica McDermott (Sue), Anna Baryshnikov (Sandy), Matthew Broderick (Jeffrey), Heather Burns (Jill), Stephen McKinley Henderson (Mr. Emery)
 

Filmhomepage, WikipediaEPD-FilmProgrammkino.de  
Jury der Evangelischen Filmarbeit: Film des Monats Januar
Kinotipp der katholischen Filmkritik Januar 2017

Videokritik von Andreas Kilb auf FAZ.de
Kritik
von Caspar Shaller in der Zeit 
Kritik
von Tobias Kniebe in der Süddeutschen Zeitung 
Kritik
von Hannah Pilarczyk im Spiegel
Kritik
von Manfred Hermes im Tagesspiegel
Kritik
von Andrea Köhler in der Neuen Züricher Zeitung
Kritik
von Dominik Kamalzadeh im Wiener "Der Standard"
Kritik
von Bert Rebhandl in Cargo

Der Filmdienst ist seit Jahren die führende deutsche Kinofilmfachzeitschrift. Da die Kritiken des Filmdiensts nicht ohne weiteres zugänglich sind, drucken wir sie hier ab, unabhängig ob sie positiv oder negativ ausfallen. Unser Ehrgeiz ist es nicht, Interessierte mit hohlen Versprechungen oder plakativen Etikettierunen wie "Kunstfilm" oder "besonderer Film"  ins achteinhalb zu locken. Die wenigstens Filme erhalten vom Filmdienst eine positive Kritik. Es ist daher durchaus so, dass Filme, die dort nicht so positiv "wegkommen", ansonsten durchweg positive Kritiken erhalten haben und wir auch einige Filme "klasse" gefunden haben, die vom Filmdienst kritisch bewertet worden sind. Es ist halt eine Meinung unter mehreren, aber in der Regel eine fundierte. Die höchste Auszeichnung ist das Prädikat "sehenswert", die Altersempfehlung ist eine pädagogische.

Kurzkritik Filmdienst
Ein schweigsamer Einzelgänger, der als Hausmeister in Boston arbeitet, kehrt anlässlich des Todes seines Bruders in seine kleine Heimatstadt an der US-amerikanischen Ostküste zurück. Als er die Vormundschaft für seinen 16-jährigen Neffen übernehmen muss und es zum Wiedersehen mit seiner Ex-Frau kommt, brechen tiefe seelische Wunden wieder auf. Packendes, komplex konstruiertes Drama um Schuld und Erlösung, das in intensiven Rückblenden die ganze Tragik, Verletztheit und Schuld der Hauptfigur enthüllt. Die emotional und psychologisch genau gezeichneten, grandios gespielten Figuren halten stets die innere Spannung aufrecht.
Sehenswert ab 16.
Michael Ranze, FILMDIENST 2017/2

EPD 1/2017: ★★★★★ (5 von 5 Sternen) - Kai Mihm

Trailer (138 Sekunden):



ausführliche Kritik Filmdienst
Das erste Bild zeigt einen Mann und einen Jungen. Beide sitzen am Ende eines nach hinten offenen Boots und angeln. Noch kann man nicht einordnen, wer sie sind, welche Funktionen sie innerhalb der Erzählung übernehmen werden. Eine Idylle, so scheint es zunächst. Doch sie steht in starkem Kontrast zu der Geschichte, die sich nun in mehreren Schichten entfaltet. Im Mittelpunkt: Lee Chandler, ein schweigsamer, unfreundlicher Einzelgänger, der als Hausmeister einen Wohnblock im winterlichen Boston betreut. In einer kurzen Szenenfolge macht Regisseur Kenneth Lonergan, der mit „Manchester by the Sea“ seinen dritten Film nach „You Can Count on Me“  und „Margaret“ (2011) inszenierte, deutlich, was das bedeutet: verstopfte Toiletten reinigen, Schnee schippen, Wände streichen. Eines Abends provoziert Lee unvermittelt in einer Bar eine Schlägerei. Unverantwortlicher Mistkerl oder zutiefst verletzter Mann, der nur noch die Hülle seiner selbst ist und sich selbst bestrafen will? Da erreicht Lee die Nachricht, dass sein Bruder Joe einen Herzanfall erlitten hat und bald sterben wird. Lee muss die Vormundschaft für seinen 16-jährigen Neffen Patrick übernehmen, und so kehrt er widerwillig in seine alte Heimatstadt Manchester-by-the-Sea zurück.

Alte Wunden reißen auf, und man ahnt, dass Lee der Situation nicht gewachsen ist. Zwangsläufig kommt es zum Wiedersehen mit seiner Ex-Frau Randi. Nicht zu vergessen Patricks Mutter Elise, deren Verschwinden Lee erst in die Verantwortung für seinen Neffen zwingt. Rückblenden in die Vergangenheit, die durch ihre Gleichgewichtung den Charakter einer Parallelhandlung annehmen, offenbaren allmählich die ganze Tragik, Verletztheit und Schuld der Hauptfigur und erklären das Scheitern der Ehe mit Randi, die einmal chaotisch, aber auch glücklich begann.

Lonergan hat seine Geschichte klug und komplex aufgebaut, fast schon pointilistisch streut er einzelne Informationen ins dramaturgische Gerüst und bringt es damit leicht zum Zittern. Informationen, deren Bedeutung sich erst sehr viel später erschließt. Man muss darum besonders in der ersten Stunde wie bei einem Puzzle die Teilchen zusammensetzen, um sich ein vollständiges Bild zu machen. Was bewirkt, dass die Figuren und die Situationen gefangen nehmen und großes Interesse auslösen: Was ist ihr Geheimnis? Welches Ereignis hat sie so sehr verändert? Und, wichtiger noch: Wie wird sich der Konflikt lösen? Fragen, die die innere Spannung des Films ausmachen.

Wie die Charaktere mit der Tragödie, die der eigentlichen Filmhandlung vorausgegangen ist, umgehen und sich zueinander verhalten, ist sowohl emotional als auch psychologisch auf den Punkt getroffen. Das Hauptgewicht liegt dabei auf der Beziehung zwischen Lee und Patrick. Während der Junge sich mit seiner hedonistischen Ruppigkeit im Charakter seines Onkels zu spiegeln scheint, ringt Lee mit seiner Rolle als möglicher Vormund. Das macht aus „Manchester by the Sea“ vor allem einen großen Schauspielerfilm: Selten sah man Casey Affleck so konzentriert, intensiv und vielschichtig wie hier. Seine Unentschiedenheit, sein irritierendes Verhalten, die Abwehr, mit der er auf seine Umwelt reagiert – mit jeder Geste, jeder Bewegung, jedem Wort fängt er die Misere und Verzweiflung seiner Figur ein. Michelle Williams als Ex-Frau hingegen sorgt gegen Ende mit dem Versuch, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu versöhnen, für die ergreifendste Szene des Films. Die Trauer ihrer Figur steht ihr förmlich ins Gesicht geschrieben – und das ist schlicht großartig gespielt.

Interessant ist auch das Setting: Manchester-by-the-Sea ist eine kleine Küstengemeinde, in der jeder jeden kennt und die Erinnerung wie selbstverständlich wachgehalten wird. Den Umgang miteinander erleichtert das allerdings nicht. Der graue Himmel, die Kälte und der Schnee unterstreichen die tiefe Verletztheit der Menschen. Hier, in dieser rauen Natur, ist es nicht einfach, den Schmerz der Vergangenheit abzuschütteln und ein neues Leben zu beginnen.

Michael Ranze, FILMDIENST 2017/2