Die 70-jährige Mahin (Lili Farhadpour) lebt in einer geräumigen Parterrewohnung in Teheran. Ihre ganze Freude ist der nur ihr zugängliche Garten, den sie mit in öffentlichen Parks ergatterten Samen und Setzlingen im Laufe der Jahre in ein florierendes Kleinod verwandelt hat. Mahin hat früher als Krankenschwester gearbeitet und ist seit 30 Jahren verwitwet. Ihre beiden Kinder hat sie größtenteils alleine großgezogen. Heute leben diese in Europa. Früher hat Mahin sie ab und zu besucht. Doch das ist ihr im Alter fast nicht mehr möglich. Ihre Tochter ruft sie aber täglich an.
Mahin lebt nicht schlecht. Doch die im Iran geltenden restriktiven Rechte, die Frauen zu Bürgerinnen zweiter Klasse machen und ihnen in der Öffentlichkeit Hidschab und Kopftuch aufzwingen, sowie das zunehmende Alter haben sie einsam werden lassen. Ihre Freundinnen, mit denen sie sich früher wöchentlich traf, kommen nur noch einmal pro Jahr für ein Kaffeekränzchen vorbei. Auch ins Schwimmbad geht Mahin nicht mehr, weil das für Frauen nur am Vormittag offen ist, sie aber meist bis Mittag schläft, da sie an nächtlicher Schlaflosigkeit leidet. Auf eine zweite Ehe hat Mahin sich bisher nicht eingelassen.
Ein Mann ohne Frau
Doch als sie sich bei einem Treffen mit ihren Freundinnen einmal mehr darüber aufregt, dass sich ihre Gespräche ausschließlich um Krankheiten, Gebrechen und andere Altersthemen drehen, fasst sie sich ein Herz und beschließt, sich nach einem Partner umzusehen. Sie macht sich zurecht und lässt sich per Taxi in ein in einem fernen Stadtteil liegendes Hotel fahren, in dem vor der Revolution regelmäßig Tanzveranstaltungen stattfanden. Doch das damals angesagte Hotel ist heute ein moderner Coffee-Shop, dessen Getränkekarte man nur per Smartphone lesen kann. Mahin flieht in einen nahegelegenen Park, in dem sich Menschen sportlich ertüchtigen sollen. Doch der Park entpuppt sich in den Nachmittagsstunden als nahezu menschenleer. Später besucht Mahin ein Restaurant, in dem Seniorinnen und Senioren für staatliche Gutscheine Essen bekommen. Aus den von Nachbartischen belauschten Gesprächen erfährt sie, dass einer der anwesenden Männer alleine lebt.
Die Protagonistin des von Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha inszenierten Dramas „Ein kleines Stück vom Kuchen“ braucht fast nicht zu lügen, um mit dem betreffenden Mann (Esmaeel Mehrabi) unter Wahrung aller nötigen Sittlichkeitsauflagen in Kontakt zu treten. Faramarz ist nämlich von Beruf Taxifahrer, und die besitzen nicht nur im Iran und im iranischen Kino eine Art Sonderstatus. Ein Taxi ist eine geschlossene Kapsel, die es Wildfremden unter Ausschluss der Öffentlichkeit ermöglicht, sich zu begegnen, über den Rückspiegel einander in die Augen zu schauen und sich frei miteinander zu unterhalten. Insbesondere iranische Filmemacher setzen den abgeschirmten Raum von Autos und Taxis gezielt ein; etwa Jafar Panahi, der in „Taxi Teheran“ sich selbst ans Steuer setzt, oder Abbas Kiarostami, in dessen Filmen grundsätzlich viele Autos vorkommen, manchmal wie in „Close-Up“ auch ein Taxi.
Nach dem Besuch des Restaurants wartet Mahin deshalb vor der Taxizentrale geduldig auf die Rückkehr von Faramarz und überredet ihn, sie nach Hause zu fahren. Sie setzt sich nicht hinten ins Taxi, sondern auf den Beifahrersitz, und lenkt das Gespräch gezielt auf seine und ihre Lebensumstände. In Andeutungen macht sie klar, was ihre Absichten sind. Faramarz, der sozusagen die Diskretion in Person ist, legt daraufhin an einer Straßenecke vorsorglich einen kurzen Halt ein und besorgt sich in einer Apotheke ein „dringend benötigtes Medikament“.
Wein, Musik und Tanz
Bis dahin halten sich der Film und seine Protagonisten weitgehend an die iranischen Gebote und Verbote. Mahin trägt außerhalb ihrer Wohnung stets Hidschab und Kopftuch. Dass sie nicht grundsätzlich kuscht, sondern eine starke, mutige Frau ist, die sich für die Anliegen der Frauen wehrhaft einsetzt, zeigt eine Szene im Park, in der die Sittenpolizei eine junge Frau wegen ihres angeblich zu lose gebundenen Kopftuches verhaften will; doch Mahin interveniert erfolgreich dagegen. Faramarz, der fast gleich alt ist wie Mahin, genießt als kriegsversehrter Soldat einen gesellschaftlichen Sonderstatus.
Doch ab dem Moment, in dem Faramarz zu später Stunde Mahins Wohnung betritt, ändert sich das. Die beiden begehen, befeuert von der für sie ungewöhnlichen Situation, einen Gesetzesbruch und eine Unsittlichkeit nach der anderen. Sie tun es heiter und fidel. Bei selbstgekeltertem Wein, lauter Musik, beschwipstem Tanz und der Feststellung, dass die Sittenpolizei sie zur Eheschließung zwänge, wenn sie sie jetzt erwischen würden. Wer wollte den beiden alten Menschen die paar ungezwungenen, von Heiterkeit und auch körperlicher Annäherung geprägten Stunden nicht von Herzen gönnen?
Doch in den Augen der iranischen Behörden geht „Ein kleines Stück vom Kuchen“ entschieden zu weit, obwohl der nichts weiter als die hinter verschlossenen Türen spielende Alltagsrealität einer älteren Frau und ihrer Zufallsbekanntschaft zeigt. Die Regisseure Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha, die sich schon nach „Die Ballade der weißen Kuh“ (2020) einem zweijährigen Gerichtsprozess ausgesetzt sahen, mussten während des Filmschnitts ihre Pässe abgeben, sodass sie bei der Uraufführung des Films während der Berlinale 2024 nicht dabei sein konnten.
Das Schicksal in die eigene Hand nehmen
„Ein kleines Stück vom Kuchen“ ist sorgfältig und stimmungsvoll inszeniert. Er verweist in kurzen Momenten auf die Einschränkungen, denen die Frauen im Iran ausgesetzt sind. Am klarsten zeigt dies die Aussage der jungen Frau im Park, die daran erinnert, dass Mahin im Unterschied zu ihr die Zeit, in der sich Frauen im Iran frei und elegant gekleidet in der Öffentlichkeit bewegen und auch die Universität besuchen konnten, noch gekannt habe. Tatsächlich liegen Welten zwischen der eher schüchternen jungen Frau, die sich im Park heimlich mit ihrem Geliebten trifft, und Mahin, die sich später für Faramarz schön macht, den titelgebenden (Orangenblüten-)Kuchen bäckt und sich als weltgewandte und kluge Frau erweist.
„Ein kleines Stück vom Kuchen“ verströmt zwischendurch einen trutzigen, ja fast schon fatalistischen Humor, der vielen Komödien eigen ist, in denen Senior:innen auf ihr Alter und äußere Widerstände pfeifen und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Er strahlt aber auch viel menschliche Wärme aus, was vor allem das Verdienst der großartigen Hauptdarstellerin Lili Farhadpour und des von Esmaeel Mehrabi charmant gespielten Faramarz ist. Ein sehr menschlicher und wunderbar mutiger Film, der die Berlinale-Preise der Ökumenischen Jury und der FIPRESCI-Jury mehr als verdient hat.