Oeconomia (Eintritt frei)

  Donnerstag, 25. November 2021 - 19:30 bis - 21:00

 

 

Eintritt: frei

Deutschland 2020
Kinostart: 15. Oktober 2020
89 Minuten
FSK: ab 0; f
FBW: Prädikat besonders wertvoll

Regie/Drehbuch/Schnitt: Carmen Losmann
Kamera: Dirk Lütter   
Musik: Peter Rösner

Filmwebseite, Presseheft

Kritiken:
Kritik von Anke Westphal im Filmmagazin EPD (4 von 5 Sternen)
Kritik von Ulrich Kriest im Filmdienst (4 von 5 Sternen)
  
Kritik von Peter Osteried auf Programmkino.de (Gilde der Filmkunsttheater)

Trailer (97 Sekunden):



ausführliche Kritik Filmdienst  
Ein aufschlussreicher Dokumentarfilm über die Funktionsweisen des Finanzmarktes, bei dem scheinbar simple Fragen an Experten eine angeblich kaum fassbare Materie greifbar machen.

Vor einigen Jahren beschäftigte sich Carmen Losmann in ihrem Film Work Hard - Play Hard mit unterschiedlichen Strategien einer „schönen, neuen Arbeitswelt“, in der es darum geht, nicht länger Arbeitsprozesse zu verbessern, sondern vielmehr den Arbeitnehmer selbst zu optimieren. „Work Hard - Play Hard“ handelte von lichter, funktionaler Architektur, mobilen Arbeitsplätzen, Trefforten zum Gedankenaustausch und einer beschädigten Sprache, die dazu dient, die „neuen“ Anforderungen und Zumutungen kommunikativ zu implementieren. Nun, in ihrem neuen Film „Oeconomia“, weitet die Filmemacherin, im besten Sinne durch die Finanzkrise inspiriert, ihren Blick auf Grundsätzliches, kann aber auch auf die Einsichten des älteren Films bauen. In „Oeconomia“ nähert sie sich dem Wirtschaftssystem gewissermaßen aus der Perspektive des Lehrers Bömmel in der Feuerzangenbowle, der sich zunächst ganz dumm stellt, wenn es um die Erläuterung der Dampfmaschine geht.

Was also sind die Spielregeln des Systems? Wie kommt es zur Ungleichheit der Vermögensverteilung? Woher kommt das Geld für Gewinne? Wie kommt es zur Schere von Privatvermögen und Staatsverschuldung? Warum ist der Durchschnitt das Leichentuch der Statistik? Zur Beantwortung solcher und ähnlicher Fragen befragt Losmann Experten: Banker, Volkswirte, Makro-Ökonomen. Gleichzeitig macht sie ihre Recherche zum Film transparent, indem sie Telefonate per Gedächtnisprotokoll dokumentiert und aus dem Off einsprechen lässt.

Erstaunlich häufig wird der Zeitrahmen eines Gesprächsangebotes noch einmal erheblich zusammengestrichen. Gesprächspartner anonymisieren oder „privatisieren“ ihre Aussagen als nicht verallgemeinerbar. Kaum verwunderlich, aber irgendwie doch drollig: Wiederholt bekommt Losmann das Angebot, die Simulation eines Kundengesprächs oder Meetings filmen zu dürfen. Oder aber dieses durch die Glaswand von außen zu dokumentieren.

Transparenz, die es de facto nicht gibt

Losmanns geschulter Blick nimmt schon wahr, dass die Architektur des Finanzsektors eine Transparenz suggeriert, die de facto nicht zu haben ist. Schnell wird klar, dass die Vorstellung einer fixen Geldmenge, die global zirkuliert, ins Reich der anschaulichen Fantasie gehört. Tatsächlich wird Geld produziert, wenn ein Kredit gewährt wird, gegen das Versprechen, ihn auch zurückzuzahlen. Der Schuldner ist der zentrale Akteur des Kapitalismus. Wenn Schulden getilgt werden, wird diese Summe wieder aus der Zirkulation genommen, weshalb das System außerordentlich daran interessiert ist, dass immer neue Schulden aufgenommen werden. Und das gilt nicht nur für Individuen und Firmen, sondern auch für Staaten.

Immer neue Volten dreht Losmann, wobei dann auch der Sozialstaat als Profitquelle sichtbar wird. Von Staatsanleihen als Kapitalanlagen ist die Rede und auch davon, wie man bestimmte Wirtschaftssektoren am Leben erhält, die Investoren eigentlich als unrentabel erscheinen.

Zusammengehalten wird der ganze Film, der mitunter durchaus an das gute, alte Schulfernsehen erinnert, durch Losmanns eigentümlichen Humor, der insistiert und nachfragt. „Oeconomia“ besteht durchaus nicht nur aus Talking Heads vor Grafiken, sondern die Kamera begibt sich auf die Spurensuche nach der Realität hinter den abstrakten Prozessen. So wird sie, wenn es um den Komplex „neue Märkte, neue Produkte, neue Wertschöpfungsketten“ geht, fündig in und vor Kaufhäusern, wo dann die nächsten Sonderedition eines bestimmten Schuhs auf Obdachlose auf der Straße davor trifft.

Rhetorische Muster werden sichtbar

Durch eine unsaubere Montage, die die Gesprächspartner immer etwas länger als üblich im Bild lässt, werden rhetorische Muster und auch spezifische Kommunikationsakte sichtbar. Mal wird Losmann für ihre einfachen Fragen geradezu von oben herab beschimpft, weil sie (scheinbar) unter Niveau gefragt hat. Mehr als einmal aber trifft sie auch auf Experten, die eben nur für bestimmte Zusammenhänge Experten sind, aber über naheliegende Felder noch nie nachgedacht haben: „Das ist eine gute Frage. Die ist gut, aber wahnsinnig schwierig zu beantworten.“

Die Materie gilt als komplex, ist es sicher auch, aber mit Schalk zaubert Losmann kleine Risse in den selbstgewissen Habitus der selbsternannten Elite, die sie hier auch nebenbei porträtiert. Das Finanzsystem erscheint als Paradebeispiel des „Mansplaining“. Gewisse Annahmen gelten als gesetzt, um das System am Laufen zu halten, aber was wäre, wenn der Leitsatz, dass Profitinteresse die Triebkraft hinter wirtschaftlicher Aktivität ist, schlicht nicht stimmt? Was, wenn die Wirtschaft zu wachsen aufhörte? Was, wenn plötzlich sämtliche Schulden auf einen Schlag getilgt würden? Würde das System dann zusammenbrechen?

Aktuell konstatiert Losmann einen Wettlauf zwischen dem Ökosystem Erde und dem Kapitalismus, bei dem nicht als ausgemacht gelten kann, wer diesen Wettlauf gewinnt. Wer indes in beiden Fällen auf der Verliererstraße sitzt, ist zweifelsfrei. Losmann, durchaus parteilich, setzt auf „Oeconomy“ statt „Economy“, muss allerdings Alternativen erst noch recherchieren. Am Ende heißt es: to be continued, hoffentlich soon.

Eine Kritik von Ulrich Kriest