Eintritt: 7,50 €

Deutschland 2022
Kinostart: 22. September 2022
97 Minuten
FSK: ab 12; f 

Regie: Lars Jessen
Drehbuch: Catharina Junk
nach dem gleichnamigen Roman von Dörte Hansen

Darsteller: 
Charly Hübner (Ingwer Feddersen) · Peter Franke (Sönke Feddersen) · Hildegard Schmahl (Ella Feddersen) · Lennard Conrad (Ingwer (1965-1976)) · Rainer Bock (Sönke (1965-1984)) · Gabriela Maria Schmeide (Ella (1965-1976)) · Gro Swantje Kohlhof (Marret (1965-1976)) · Jörg Pose (Lehrer Steensen) · Julika Jenkins (Ragnhild) · Nicki von Tempelhoff (Claudius) · Jan Georg Schütte (Heiko Ketelsen) · Dieter Schaad (Paule Bahnsen) · Ulrike Bliefert (Dora Koopmann) · Michael Lott (Paule Bahnsen (1965-1976)) · Katinka Auberger (Anneleen) · Anne Müller (Pflegerin Helga) · Dagmar Leesch (Gerda Boysen) · David Bredin (Kalli Martensen) · Sebastian Fräsdorf (Landvermesser Thomas) · Tim Ehlert (Landvermesser Wolfgang) · Torben Friedrichsen (Landvermesser Andreas) · Esther Roling (Beatrice) · Charlotte Crome (Heidrun) 

Filmwebseite, alle Daten zum Film auf Filmportal.de 

Kritiken: 
Kritik von Ulrich Sonnenschein für EPD-Film (4 von 5 Sternen)
Kritik von Katharina Zeckau für den Filmdienst 4 von 5 Sternen)
Kritik von Doris Kuhn für die Süddeutsche Zeitung
Kritik von Bert Rebhandl für die FAZ
Kritik von Gunda Bartels für den Tagesspiegel
Kritik von Bianka Piringer für Kinozeit.de
Kritik von Jürgen Kiontke für die Filmgazette
Kritik von Petter Gutting für Filmrezensionen.de
Kritik von Oliver Kube für Filmstarts.de
Kritik von Falk Straub für Spielfilm.de
Kritik von Bettina Peulecke für NDR Kultur 

Trailer (121 Sekunden):  
auf Plattdeutsch mit hochdeutschen Untertiteln 

 

ausführliche Kritik von Katharina Zeckau für den Filmdienst
Vielschichtige Romanadaption über die Geschichte einer nordfriesischen Familie über mehrere Jahrzehnte hinweg, in denen sich nicht nur die Dorfgesellschaft grundlegend wandelt.

Marret ist weg. Und mit ihr die gute alte Zeit. Jene Jahre, als man sich beim Einkaufen noch beim Bäcker oder im Kaufladen traf, die Feldmark in Brinkebüll noch voller Bäume, Hecken und Feldhasen war und keine Lastwagen die begradigte Dorfstraße entlangdonnerten. Als die Störche jedes Jahr ihr Nest auf dem Kirchturm bezogen, die große Ulme noch in der Dorfmitte stand und man auf den Höfen bei Regen im Matsch versank. Jetzt aber ist eine neue Zeit angebrochen. Sönke Feddersen hat den Platz vor seinem Stall betonieren lassen, für die schweren neuen Landmaschinen. Nur ein Fußabdruck unterbricht die frische glatte Oberfläche; ein letzter Gruß von Marret, die fortan verschwunden bleibt.

Die junge Frau war „verdreht“, oder „verdreiht“, wie es hier im gängigen Plattdeutsch des Dorfes heißt. Auch als Erwachsene war Marret noch wie ein verträumtes großes Kind, das gerne sang, durch die Natur streifte und in seiner eigenen Welt lebte. Aber auch eine Chronistin der Gegend, die bei diesen Streifzügen ein Archiv der regionalen Flora und Fauna zusammentrug. Marrets Zimmer, das ihr Sohn irgendwann betritt, erweist sich als eine Art naturhistorisches Museum. Doch das wurde weder vor noch nach ihrem Verschwinden von Marrets Umgebung je explizit gewürdigt. Dafür ist das Personal der auf mehreren Zeitebenen spielenden Romanadaption „Mittagsstunde“ viel zu spröde und unsentimental. Wenn überhaupt, macht man im nordfriesischen Brinkebüll die Dinge mit sich selbst aus, macht kein Gewese, schon gar nicht um Gefühle.

Urwüchsige Loyalität und stoische Treue

Die Beziehungen sind vielmehr von einer gewissermaßen urwüchsigen Loyalität und stoischen Treue zueinander geprägt. Marret mit all ihren Macken war ein fester Bestandteil der Gastwirtsfamilie Feddersen wie auch des Dorfes, egal, wie seltsam sie sich verhielt, aber eben auch egal, was sie vielleicht als Archivarin der verlorenen alten Zeit geleistet hat.

Im Roman von Dörte Hansen heißt es über die „Verdreihten“: „Man nahm sie hin wie Löcher in den Straßen oder das eine unberechenbare Rind, das es in jedem Kuhstall gab.“ Dieses unerschütterliche Zueinanderstehen symbolisiert hier vor allem der „Kröger“, also der Gastwirt Sönke Feddersen, der gleich mehrmals den Nachwuchs anderer als den seinen annimmt. Und so zieht Sönke nicht nur Marret, sondern auch deren Sohn Ingwer wie sein leibliches Kind auf. Das ist eine ergreifende Haltung, umso mehr, als diese ganz und gar selbstverständlich gelebt wird.

„Mittagsstunde“ erzählt von diesem Menschenschlag. Angesiedelt ist das fiktive Brinkebüll in Nordfriesland, irgendwo zwischen Husum und Kiel, wo der erwachsene Ingwer als Prähistoriker an der Universität arbeitet. Im Jahre 2012 nimmt er ein Sabbatical und kehrt ins Dorf zurück, um „Vadder“ und „Mudder“ zu pflegen, also Sönke und dessen Frau Ella. Es ist auch das schlechte Gewissen, das ihn treibt, das Gefühl, seine Zieheltern mit dem akademischen Aufstieg im Stich gelassen zu haben. Nun sind die beiden Alten um die 90 Jahre alt, Ella ist dement und Sönkes einzig verbliebenes Ziel besteht darin, ihrer beider Gnadenhochzeit – also gemeinsame 70 Jahre – noch zu feiern.

Eine Jahrzehnte umspannende Familiengeschichte

Zwischen die Szenen aus der „Gegenwart“ des Jahres 2012 sind Sequenzen der Jahre ab 1965 geschnitten, als die Männer von der „Flurbereinigung“ die Region „aufzuräumen“ begannen. Eine weitere Ebene spielt 1976, jener Zeit, als Marret verschwand. Das Ganze ist so überzeugend, effizient und geschickt gestaltet, in Szene gesetzt und montiert, dass sich daraus nicht nur ein lebendiges und stimmiges Bild der durchaus verworrenen, Jahrzehnte überspannenden Familiengeschichte der Feddersens ergibt, sondern auch die berührende Chronik einer untergegangenen Welt.

Den spröden Geist des zugrundeliegenden Romans haben die Drehbuchautorin Catharina Junk und der Regisseur Lars Jessen gut eingefangen, auch wenn der Film insgesamt etwas weniger rau, direkt und auch schmerzhaft als die Vorlage daherkommt. Auch scheint die Figur der Marret stärker als im Roman im Zentrum zu stehen. Trotz der nostalgischen Grundstimmung wirken aber weder Roman noch Film dumpf, larmoyant oder rückwärtsgewandt. Beide betrauern leise den Verlust einer Lebensform, ohne diese zu verklären, ohne das Früher gegen das Heute auszuspielen. „Mittagsstunde“ ist ein schöner, sensibler Film, der nicht nur, aber ganz besonders in der unaufgeregten und deshalb umso wirkungsvolleren Zeichnung seiner zwischenmenschlichen Verbindungen überzeugt und berührt. Vor allem die wortkarge, von stoischer Liebe geprägte Beziehung zwischen Sönke und Ingwer geht nahe, aber auch die Wechselwirkung zwischen Sönke und Ella, die einander seit 70 Jahren in einer komplexen Mischung aus Zuneigung, Gewöhnung und Fremdheit verbunden sind.

Stimmig in Drehbuch und Ensemble

Das liegt neben dem stimmigen Drehbuch und der sorgfältigen Regie auch an den Schauspielern; ein auf Vergangenheits- wie Gegenwartsebene gut funktionierendes, herausragendes Ensemble. Charly Hübner ist als erwachsener Ingwer sozusagen nur Primus inter pares. Phänotypisch hatte man sich Ingwer Feddersen beim Lesen des Romans zwar ganz anders vorgestellt: eher blond und schmal. Hübner aber ist dunkelhaarig und kräftig. Und trotzdem Ingwer, sofort. Wie gut er spielt, kann man in der Szene sehen, in der Ingwer erfährt, dass Sönke nicht sein leiblicher (Groß-)Vater ist. Wie er da zur Seite guckt, mit wenig Mimik und Gestik andeutet, wie es in seiner Figur arbeitet, sich schließlich sammelt – das ist schlicht großartig. Zudem hat der von der Mecklenburgischen Seenplatte stammende Schauspieler vielleicht auch aufgrund dieser relativen räumlichen Nähe das in Brinkebüll gängige Plattdeutsch gut drauf. In die Kinos kommt der Film sowohl in einer hochdeutschen Version als auch in einer plattdeutschen Fassung mit Untertiteln.

Einzig die Musikspur ist nicht ganz so gelungen; sie ist zu voll. Die vielen Instrumentalpassagen passen nicht so recht zum kargen Landschafts-, Erzähl- und Kommunikationsstil; zudem verwässern sie das präzise Song-Konzept des Romans, bei dem jedes Kapitel mit einem Schlagertitel überschrieben ist. Die einzelnen Schlager im Film aber sind stimmungsvoll und passend eingesetzt, ebenso wie der abschließende Song von Maike Rosa Vogel. Dazu erlaubt sich der Film dann ganz am Ende ein paar in Nostalgie badende Bilder; wenige Momente hemmungsloser Sentimentalität, die schlicht perfekt sind.