Griechische Interviewpartner
Psarantonis, Olga, Pipinelli, Natasha, Giannis, John, Nontas, Judith, Nikos, Athanassis
Erzähler
Ulrich Tukur
FILMWEBSEITE
Eigentlich wollte ich nur nach Griechenland, um über die Minoer und die Kurven und Spiralen zu erzählen. Aber dann kam alles ganz anders. Erinnert sich noch jemand an die Aufhetzungskampagne gegen Griechenland in den europäischen und deutschen Medien? Erinnert sich noch jemand an das Jahr 2015, an den griechischen Frühling? Auf einmal sollte wieder ein ganzes Volk schuldig sein. Auf einmal sollte man sich wieder als was Besseres fühlen.
Filmkritik von Dr. Peter von Becker im Berliner Tagesspiegel
Filmkritik von Bert Rebhandl in der Fachzeitschrift Cargo
Zu Harald Bergmanns Film
„VORZEIT – Eloge auf Griechenland
von Marleen Stoessel
Dieser Film war, ist überfällig! Als Hommage an ein Land, das nurnoch in Verbindung mit dem Wort Krise vorzukommen scheint.„Vorzeit – Eloge auf Griechenland“, so der Titel, den der FilmemacherHarald Bergmann dem ersten Teil seines Projekts überGriechenland, Kreta und die noch viel ältere minoische Kultur gibt.Über ein Land zwischen Mythos und Mythen: Mythos sowohl imSinn der alten Erzählung, mit welcher – der Zeus-Erzählung – derFilm anhebt, wie auch in jenem anderen Sinn, welcher Mythosund Mythen als Verzerrung der Wahrheit, Entstellung, als Lügebegreift – all die Klischees, Zuschreibungen, Ressentiments undVorurteile, die sich die einen Gruppen, Gemeinschaften, Nationenüber die anderen machen, die Heimischen über die Fremden, dieDeutschen, die artigen Europäer über die verschuldeten, unbotmäßigenGriechen.Dementsprechend wollte 2015, im Jahr der großen „Krise“, auchkeine Filmförderung das Projekt unterstützen (erst später konntedank BKM und Medienboard der Film realisiert werden), undHarald Bergmann machte sich mit nichts als einer Pocket-Kamera(deren er vier Stück verbrauchte) auf den Weg zu den Ursprüngendes griechisch-kretischen Mythos in seiner doppeltenGestalt. Entstanden ist wie stets bei diesem allen filmischen undkommerziellen Konformismen trotzenden Regisseur ein höchsteindrucksvolles Werk, das diese beiden Aspekte des Mythos ineinem kunstvollen Gewebe von Bildern, Stimmen, Klängen vorführt,in atemberaubenden, oft förmlich von der Kamera-Handvibrierenden Bildern: von der idäischen Zeus-Grotte, vom Meer,dem Licht, der Großstadt Athen (inklusive Doku-Einblendenaus Berlin), zuweilen auch in rasantem Flacker-Ablauf, was alsErinnerungsfilm im Gedächtnis überdauert. Und ebenso in denStimmen der Kritik, die den „Kulturrassismus“ und die Abwehrmechanismengeißeln, die nicht nur 2015 und nicht nur hierzulandeerschreckend zum Ausdruck kamen. Aber auch und vor allemin den Stimmen aus dem Lande selbst, den wahren Stimmender Menschen aus unterschiedlichen Milieus, vom Taxifahrer überden Intellektuellen bis zu jenem stets heiteren Luftikus mit SpitznamenPipinelli, der mitten in der Landschaft den „Luxus“ einesPlumpsklos mit phantastischem Meerblick genießt. Ein gewitzterLebenskünstler, ein moderner Diogenes, dem Sonne, Meer undsein täglicher Stuhlgang alles Heil auf Erden sind.Und nicht zuletzt in den Stimmen der Frauen, der „Musen“, zweigriechische und eine deutsche, deren eindringlichste von der80-jährigen Griechin Olga kommt, die in einer schlichten, gefasstenRede ein Manifest der Menschlichkeit bietet, als Ausdruckkonkreter, gelebter Utopie. Angesichts der drohenden SpaltungEuropas ein einzigartiges Dokument – und Präsent. Und mitihnen all die Stimmen, die den Ursachen von Neid, Ressentiment,Fremdheit nachspüren und ihr Gegenbild zu entwerfen versuchen,ergänzt von den leisen Einlassungen des Regisseurs, der mit seinen behutsamen Fragen den Menschen die Zunge löst, sie zum
Erzählen bringt, auf griechisch, englisch oder deutsch, und einmal
wie im Selbstgespräch an den Betrachter die Frage weitergibt, ob
die sogenannte Krise nicht eher bei uns als bei den Griechen zu
finden sei ...
Die Erinnerung, die er aus seiner Jugend beiträgt, wie bei einer
Wanderung auf der Hochebene ein alter einfacher Mann ihn aufnahm
und bewirtete, der noch eine für deutsche Ohren schmerzliche
Pointe folgte, gehört zu den fast lautlosen, sich tief in Ohr und
Herz bohrenden Höhepunkten des Films. Und ebenso bohrend
jene Fragezeichen, die er durch die Verweise auf den Hungerwinter
von 1941/42 setzt, als die Nationalsozialisten das Land
besetzt hielten und gerade auch wirtschaftlich bis zum letzten
ausbeuteten, es ausbluteten im buchstäblichen Sinn. Über hunderttausend
Tote fielen dem zum Opfer. „Schleichhändler, Diebe,
Arbeitsscheue“, so lauteten die Zuschreibungen damals – wie
heute.
Doch ist dies kein Thesenfilm. Seine Haltung ist die Frage, das
sich Vortasten, voller Respekt und Empathie für das Gegenüber
und nicht zuletzt für die Schönheit des Landes, seine Menschen,
seine Musik, seine alten Mythen, sein Licht. Mündend in die von
einem, der einmal zugezogen war, nachdenklich geäußerten Worte,
auf welche Weise „this way of thinking grew up in this light“.
Eine Frage zugleich nach der Quelle der Kraft dieses uralten Kulturvolks,
welches das abendländische Denken wie kein anderes
prägte – der Regisseur wird ihr im nächsten Teil des Projekts auch
weiterhin folgen. Eine geradezu slapstickhafte Szene bringt dies
einmal auf andere Weise zum Ausdruck, als jener Luftikus eine
Pistole vorführt, die im Schuss auf den anderen abknickt und sich
gegen den Schießenden selber richtet. Ein beißend-ironischer
Kommentar zum weltweit herrschenden Waffenwahn und ein heiter-
entschiedenes Nein zum allgegenwärtig drohenden Suizid.
Pathos, ein leises, Skepsis und zuweilen aufflackernder Humor
sind die Ingredienzen dieses Films – rhythmisch-melodisch umrahmt,
durchzogen vom Gesang Psarantonis, des berühmten kretischen
Lyra-Spielers, der, in der grandiosen Zeus-Höhle sitzend,
die Musik, die Natur als Gott, als Puls allen Lebens und Daseins
preist. Geh mir aus der Sonne! Der legendäre Ruf – es ist, als
würde auch er mit ihm erklingen. Wer Ohren hat, der höre – und
sehe diesen Film.
Die Griechen & Wir
von Wilfried Reichart im Filmdienst Der Filmemacher Harald Bergmann hat mit einer „minoischen Trilogie“ begonnen; der erste Film von „Vorzeit" mit dem Titel „Eloge auf Griechenland" ist bereits beendet. Ursprünglich sollte es darin um die Frühzeit des Landes und die Hochkultur der Minoer gehen; vor Ort entschied sich der Filmemacher jedoch, den Blick auf das gegenwärtige, krisengebeutelte Griechenland zu weiten.
Der griechische Musiker und Poet Psarantonis spielt die Lyra. Die Kamera folgt einem steinigen Weg auf der Insel Kreta; eine archaische Landschaft in Brauntönen, weite Ebenen und ein wolkiger Himmel. Oberhalb der Nida-Hochebene schwebt die Kamera aus der Höhe über Schneefelder tief in die Zeushöhle am Berg Ida. Der griechischen Mythologie zufolge wurde Zeus in dieser Höhle auf Kreta aufgezogen. Das sind die ersten Bilder von Harald Bergmanns sehr persönlichem Filmessay „Vorzeit“. Ursprünglich wollte Bergmann über die Hochkultur der Minoer erzählen, die es lange vor den Griechen gab, und ihre bunten Kunstwerke der Kreise, Kurven und Spiralen zeigen. Aber dann kam alles anders.
Blick auf die brutale Gegenwart
Mit einem harten Schnitt verlässt er die Welt der frühen Kultur. Wir sind in der Gegenwart, in Athen, in der brutalen Wirklichkeit der Griechen angekommen; dem Land droht eine Staatspleite. Europäische Kommission, Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds schnüren Rettungspakete und stellen Bedingungen. Unter anderem soll der Staatsbesitz privatisiert und das Rentensystem reformiert werden. Europäische Medien schüren Ressentiments gegen die „faulen“ Griechen.
Das ist kein guter Zeitpunkt für einen Film, der sich für Griechenland ausspricht. Diese Erfahrung musste Harald Bergmann machen. Keine Fernsehanstalt wollte sich an der Produktion beteiligen, und so machte sich der Filmemacher allein auf den Weg. Mit Pocketkameras hielt er das öffentliche Leben auf Kreta und Kythira, in der Ägäis, dem südlichen Peloponnes und Athen in tausenden Fotos fest. „Ich wollte durch meinen individuellen, persönlichen Blick, wie ich die Landschaft sehe, wie ich die Leute erlebe, was meine Erfahrungen und Erinnerungen sind, eine andere Sicht auf Griechenland ermöglichen.“ Das Bundeskultusministerium und das Medienboard Berlin-Brandenburg unterstützten schließlich mit kleinen Summen das Projekt, und so konnte ein Film entstehen, dessen bescheidene Produktionsbedingungen einen ganz besonderen Stil kreieren. Alles, die Kamera, die Fotos, die Befragung der Menschen, die Regie, der Schnitt ist in einer Hand; der wirklich private Blick macht die Besonderheit dieses Films aus.
Die Seele der europäischen Gesellschaft stirbt
Aus den Fotos komponierte Harald Bergmann im Flackerstil des New American Cinema Einzelbildmontagen, rhythmische Bildfolgen in verschiedenen Tempi, die durch Musik akzentuiert werden. Sie stehen in einem experimentellen Kontrast zu den gefilmten Landschaftsaufnahmen und den vielen Gesprächen, die Bergmann geführt hat, mit Griechen und Deutschen, mit Deutschen, die in Griechenland leben, und Griechen, die in Deutschland leben.
Was sagen diese Leute? Die intellektuell Argumentierenden sprechen davon, dass die Seele der europäischen Gesellschaft stirbt, dass Griechenland der erste große Sündenfall für die Zerstörung der europäischen Idee war, dass die Wachstumswirtschaft die Kultur zerstört und die Deutschen die Vorreiter dieses Evangeliums geworden sind.
Trotz und Selbstbewusstsein spricht aus den Antworten vieler alter und junger Männer und Frauen. Die achtzigjährige Olga: „Was wir von Griechenland lernen können, ist Gastfreundschaft, sich gegenseitig respektieren, voneinander lernen, Liebe geben ohne Geld.“ Andere: Wir lassen uns von der Krise nicht zerstören. Geld ist nicht das Wichtigste im Leben. Glücklich zu leben, ist wichtiger. Sie können den griechischen Geist nicht zerstören. Der griechische Weg ist es, zu helfen, nicht zu zerstören. Ein Taxifahrer: Alles wird gut ausgehen.
Woher kommt diese Widerstandskraft?
Worum geht es? Ja, es geht Harald Bergmann um das Loben in einer Zeit der schnellen Verurteilung eines ganzen Volkes. „Vorzeit“ ist ein außergewöhnlicher und nachdenklicher Beitrag im Diskurs über Griechenland, weil er andere Perspektiven zeigt und den Klischees widerspricht, die zum Standard beim Blick auf Griechenland geworden sind.
Es geht ihm (dem Kameramann und Regisseur) auch um das besondere Licht in diesem Land, das er in seinen Bildern eingefangen hat. Sein Film feiert die Schönheit Griechenlands und das Selbstbewusstsein seiner Bewohner. „Ich muss herausfinden“, fragt er sich am Ende, „was das alles bedeutet. Woher kommt diese Widerstandskraft? Wo hat sie ihren Ursprung?“
In den weiteren Teilen seiner „Minoischen Trilogie“ wird sich Bergmann der minoischen Kultur zuwenden und sie in Beziehung zum Heute setzen. Das kann spannend werden.
Psarantonis ~ Ψαραντώνης - Η Τίγρη @ Μονή Λαζαριστών, 20/06/2012 (4 Minuten):