Vice (Unser Film des Monats April) Muss man gesehen haben – eine Granate von Film und zugleich super Unterhaltungskino – lassen Sie sich intelligent unterhalten

Vice (Unser Film des Monats April) Muss man gesehen haben – eine Granate von Film und zugleich super Unterhaltungskino – lassen Sie sich intelligent unterhalten

  Freitag, 19. April 2019 - 20:30 bis - 22:55

Ort: Kino achteinhalb

http://www.vice.movie/home

Kategorien: Oscar, NY Critics Circle Award, Komoedie, US-amerikanischer Film, Archiv, Filmpreis, Spielfilm, Biopic, Historienfilm, Golden Globe, British Film Awards, Washington DC Area Film Critics Association Awards, DCM, 2019, Scope, unser Film des Monats, eigener Text

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eigener Text kino achteinhalb:
"Vice" ist ein geniales Biopic, das mit leichter Hand ein filmisches Füllhorn kreativer Einfälle ausgießt. Die Ideendichte von "Vice" ist geradezu schwindelerregend. "Vice" unterhält, ist bestes Entertainment und zugleich geniales Infotainment. "Vice" amüsiert, lässt einen lachen (nicht zuletzt über die Banalität des Bösen) und macht einen zugleich fassungslos. Ruft einem längst vergessene Fakten ins Gedächtnis zurück, informiert über weitere Puzzleteile, die weitestgehend unbekannt sind, und präsentiert einem so Zusammenhänge, die unter den republikanischen Regierungen dazu dienten, die Welt gehörig umzukrempeln und der Macht des Weißen Hauses unterzuordnen und heute – verdrängt, vergessen, partikularisiert – bereits der Normalität überantwortet worden sind. Aus der Menge der Werke des inzwischen inflationären Genres Biopic ragt "Vice" heraus. Es offenbart mit seinen ironischen-doppelbödigen Montagen eine Ästhetik des Politischen zwischen gesellschaftlicher Rolle und hemmungslosem Geschacher von Partikularinteressen. Man muss dieses phantastische Stück kinematografisch aufgearbeiteter Zeitgeschichte mit zu den Spitzen seines Genres zählen. Es zeugt von großem Mut und aufklärerischem Selbstbewusstsein seines Regisseurs Adam McKay.

Hauptfigur des Films ist Dick Cheney (* 30. Januar 1941 in Nebraska, später Wyoming). Cheney ist keineswegs als gewissenloser Machtpolitiker geboren, sondern in eine skrupellose Politwelt hineingewachsen. Anfänglich Studienabbrecher, zweimal wegen Trunkenheit am Steuer bestraft. 1969 erstmals im Weißen Haus als besserer Botenjunge von Donald Rumsfeld unter der Regierung Nixon, wo er anfangs noch dachte, man glaube als Politiker an Werte und propagiere sie nicht nur, arbeitete er sich in Perioden republikanischer Präsidentschaften auf der Beamtenleiter geduldig nach oben. 1975 Stabschef unter der Regierung Gerald Ford. 1989 bis 1993 Verteidigungsminister unter der Regierung George Bush senior. Während der Amtszeit Bill Clintos war Cheney Aufsichtsratsvorsitzender des Ölkonzerns Halliburton. 2001 bis 2009 Vizepräsident unter George W. Bush, der dank Cheneys Mithilfe 2000 gegen Al Gore denkbar knapp auf umstrittene Art und Weise die Präsidentschaft errang.

Unter Cheneys Ägide wurde durch zahlreiche Entscheidungen – erst durch Kampagnen und Fälschungen noch verborgen – der Weg frei gemacht für einen unverhüllten Zynismus der Macht, der unter Trump zur vollen öffentlichen Blüte gelangt ist. Im Wesentlichen hat er die Gewaltenteilung aufgeweicht, indem er die exekutive Gewalt von demokratischen Kontrollen entkoppelt hat. Als Lobbyist der Konzerne fossiler Energien hat er diese mit zahlreichen Vergünstigungen von Steuererleichterungen, Subventionen bis hin zu Milliardenaufträgen bedacht - allein nach dem Irakkrieg stiegen die Aktien von Halliburton um 500 %. Generell wurde unter seiner Ägide die Steuerlast der Vermögenden gesenkt. Folterpraktiken (erweiterte Befragung) wurden legalisiert bzw. jeglicher Kontrolle entzogen. Der Afghanistankrieg sowie der Irakkrieg mit all seinen verheerenden Folgen bis heute (u. a. Destabilisierung des Nahen Ostens, Bildung des IS) gehen auf das Konto Cheneys.

Der Titel des Films bezieht sich nicht nur auf das höchste Staatsamt in Cheneys Karriere, sondern auch auf seine Rolle als Strippenzieher hinter den Kulissen – "Vice" bedeutet übersetzt auch Laster/Untugend.

McKay gelingt es, all ihre Verstrickungen, ihr Übervorteilen der oberen Zehntausend und ihre Aushöhlung des Rechtsstaats verständlich und trotzdem unterhaltsam auf die Leinwand zu bringen. Viel mehr kann Kino nicht leisten. Wenn ein Qualitätsmerkmal von Film ist, wie lange man nach dem Verlassen des Kinos noch an ihn denkt – diese 130-minütige Geschichtsstunde McKays wird man als Publikum so schnell nicht vergessen.

Der Film endet mit einem Monolog Cheneys.
McKay sagt hierzu im Interview mit dem Tagesspiegel:
"Ich wollte das Publikum ein allerletztes Mal mit dem manipulativen Charakter Cheneys konfrontieren, wenn er erklärt, dass er Amerika Sicherheit gegeben habe. Dieses Machtspiel einer autoritären Vaterfigur hat er in 30 Jahren Washington erlernt. Und es gab bei Testvorführungen tatsächlich Leute, die danach meinten: „Irgendwie hatte er ja recht!“ Es ist der älteste Trick, aber er scheint immer noch zu funktionieren. Cheney sagt: „Ich bin stolz, gedient zu haben.“ Doch er spricht nicht zu Amerika, er spricht zur Macht selbst, mit Tränen in den Augen. Ich finde den Monolog erschreckend."

Eintritt: 5,00 €

USA 2018
Kinostart: 21. Februar 2019
134 Minuten
FSK: ab 12; f

Regie/Buch/Produktion: Adam McKay
Von Adam McKay lief 2016 im achteinhalb The Big Short, ebenfalls ein klasse Film, der es versteht, großes Unterhaltungskino mit Inhalt zu verbinden.
Kamera: Greig Fraser 
Musik: Nicholas Britell
Schnitt: Hank Corwin 

Darsteller:
Christian Bale (Dick Cheney) · Amy Adams (Lynne Cheney) · Steve Carell (Donald Rumsfeld) · Sam Rockwell (George W. Bush) · Alison Pill (Mary Cheney) · Jesse Plemons (Kurt) · Tyler Perry (Colin Powell) · Lily Rabe (Liz Cheney) · Eddie Marsan (Paul Wolfowitz) · Justin Kirk (Scooter Libby) · LisaGay Hamilton (Condoleezza Rice) · Shea Whigham (Wayne Vincent) · Adam Bartley (Frank Luntz) · Kirk Bovill (Henry Kissinger) · Jillian Armenante (Karen Hughes) · Bill Camp (Gerald Ford) · Fay Masterson (Edna Vincent) · Joseph Beck (Karl Rove) · Camille James Harman (Mary Matlin) · Don McManus (David Addington) · Stephen Adly Guirgis (George Tenet), Naomi Watts (Nachrichtensprecherin)

IMDB: 30 Filmpreise plus 116 Nominierungen 
WIKIPEDIA (Auszug)
Golden Globe als Bester Hauptdarsteller für Christian Bale

Filmhomepage, Wikipedia  

Kritiken:
Kritik von Frank Schnelle im Filmmagazin EPD (4 von 5 Sternen)
Kritik von Marius Nobach im Filmdienst (4 von 5 Sternen)
Kritik von Günter H. Jekubzik auf Programmkino.de
Kritik von Drehli Robnik in der Filmgazette
Kritik von Rüdiger Suchsland auf Telepolis
Kritik von Rüdiger Suchsland auf artechock
Kritik von Tobias Riegel auf den NachDenkSeiten, Leserbriefe hierzu
Kritik von Adrian Daub in der Zeit
Kritik von Tobias Kniebe in der Süddeutschen Zeitung
Kritik von Susan Vahabzadeh in der Süddeutschen Zeitung
Kritik von Hannes Stein in der Welt
Kritik von Hannah Pilarczyk im Spiegel
Kritik von Christian Schröder im Tagesspiegel
Kritik von FabianTietke in der taz
Kritik von Arno Raffeiner in der Freitag
Kritik von C. Juliane Vieregge in der Freitag
Kritik von Falk Straub auf Kino-Zeit.de
Kritik von Renée-Maria Richter auf Kunst und Film
Kritik von Louisa von Sohlern auf artechock
Kritik von Nicolas Cassardt auf artechock
Kritik von Silvia Szymanski auf critic.de
Kritik von Sven von Reden im Wiener Standard
Kritik von Björn Hayer in der Neuen Züricher Zeitung

Interview von Wenke Husmann mit Christian Bale in der Zeit
Interview von Andreas Busche mit Adam McKay im Tagesspiegel

Schulmaterial:
Filmtipp von Vision Kino
Kinofenster
Filmpädagogische Begleitmaterialien für den Schulunterricht von Universum Film
fluter

Trailer (115 Sekunden):



ausführliche Kritik Filmdienst:
Kritisches Porträt des US-Politikers Richard „Dick“ Cheney, der von den 1960er-Jahren an in republikanischen Regierungen die Politik der USA mitprägte und vor allem als Vizepräsident (2001-2009) zahlreiche fatale Entscheidungen verantwortete.

„Misstraue dem stillen Mann. Denn da, wo andere sprechen, beobachtet er. Wo andere handeln, plant er. Und wenn sie sich schließlich ausruhen – schlägt er zu.“ Dieses angebliche Zitat einer anonymen Quelle steht „Vice – Der zweite Mann“ voran und zieht bereits eine Art Bilanz der Hauptfigur des Films: Richard „Dick“ Cheney. Mit zwei Fluchtbewegungen hat Regisseur Adam McKay den republikanischen US-Politiker zuvor in einem zehnminütigen Prolog eingeführt: einmal als ziellosen jungen Mann, der im Jahr 1963 nicht zum ersten Mal nach einer Alkoholfahrt von der Polizei gestoppt wird; das andere Mal als Vizepräsident, der beim Terror des 11. September 2001 in den sicheren Bunker unterm Weißen Haus gebracht wird – ein äußerlich unberührter Fels, der inmitten der schrillen Alarmtöne schon die nächsten Züge plant.

McKay etabliert dies als Eckpunkte im Leben eines Menschen, der sich öffentlich tatsächlich als „stiller“ Mann ohne (auffallende) Eigenschaften gab, während er hinter den Kulissen während der Amtszeit der Präsidenten Richard Nixon, Gerald Ford, George H.W. Bush und George W. Bush an zahllosen maßgeblichen Fäden zog.

Ein „demokratischer Sozialist“

Wie umfassend Einfluss und Macht von Dick Cheney in der US-Politik wirklich waren, ist Gegenstand historischer Spekulationen. Das macht „Vice“ von vornherein klar. Es versteht sich auch, dass der Film ohne Autorisierung von Cheney oder seinem Umkreis entstand. McKay, der sich als „demokratischer Sozialist“ versteht, hielt sich schon in früheren Filmen wie „Anchorman“ oder dem als Abrechnung mit George W. Bush konzipierten Broadway-Special „You’re Welcome America“ nicht mit Kritik am republikanischen Klüngel zurück.

In seinem ersten explizit politischen Spielfilm „The Big Short“ ging McKay dann hart mit den unter der Bush-Regierung ungehinderten Spekulanten ins Gericht, die die Finanzkrise von 2008 ausgelöst haben; der Film war eine satirische Farce, aber zugleich mit der eindeutigen Absicht gedreht, wahnwitzige Wirtschaftsprozesse auch einem ungeschulten Publikum verständlich zu machen.

Wo „The Big Short“ ein Versuch der politischen Aufklärung mit Mitteln des entfesselten Unterhaltungskinos war, ist „Vice“ nun gewissermaßen ein Film der Abklärung. Die Deutung von Dick Cheney als trickreichem und skrupellosem Karrieristen, der sich insbesondere als Vizepräsident eine einzigartige Machtstellung sicherte, ist liberales Gemeingut; auch die Vorwürfe gegen Cheney in Bezug auf den Irakkrieg, den Einsatz von Folter und das Abhören durch Geheimdienste sind nicht neu.

McKays Kunst liegt im Arrangement verfügbaren Text- und Bildmaterials zum argumentativen Unterbau, auf dem sich das eigentliche Thema des Films entfaltet: Der Aufstieg eines Mannes, der mit 22 Jahren im Grunde gescheitert ist, bis ein Machtwort seiner High-School-Freundin Lynne und eigene Einsicht ihm den Weg weisen. So avanciert er Ende der 1960er-Jahre erstaunlich schnell von einer mittelmäßigen Existenz zum willigen „Diener der Mächtigen“, den der Drang nach eigener Macht und die Möglichkeiten der Manipulation vorantreiben – und der sich dabei die Eitelkeit versagt, öffentlich mit dem Erreichten zu prahlen.

Zeitsprünge, Bildmontagen, surreale Momente

McKay geht bei seinem rund fünfzig Jahre umfassenden Film chronologisch vor, wobei Cheneys Lehrjahre unter Nixon sowie die Vizepräsidentschaft von 2001 bis 2009 die ausführlichsten Kapitel umfassen. Wie bei „The Big Short“ setzt der Regisseur auf Bildmontagen, Zeitsprünge und insbesondere auf surreale Momente und Illusionsbrüche, die den Film zu einem ganz und gar unkonventionellen Porträt machen.

Im Unterschied zu „The Big Short“ sind der Stakkato-Schnitt und der Einsatz von Verfremdungstechniken im Stil von Brecht oder Godard jedoch zurückgenommen. McKay will das angestrebte Persönlichkeitsprofil nicht unter technischer Virtuosität vergraben, wobei ihm die einmal mehr erstaunliche Verwandlungskunst von Christian Bale wunderbar zu Diensten ist: Mit Hilfe sorgfältiger Maskenarbeit und Bales bekannter Bereitschaft zum flexiblen Körpergewicht im Dienst der Rolle, vor allem aber mit der Präzision, mit der der Schauspieler Cheney einen unerwarteten Nuancenreichtum verleiht, vom noch naiven Washington-Einsteiger bis zum abgebrühten Meister politischer Winkelzüge, dem das Sprechen aus spöttisch verzogenem Mundwinkel zur zweiten Natur geworden ist.

So unmissverständlich der Film Dick Cheney als politischen Verbrecher zeichnet, fällt der Blick von McKay und Bale weit differenzierter als bei anderen Spielfilmen zur jüngeren US-Politik. Wo sich Oliver Stone bei „W.“ von seiner Verachtung für George W. Bush derart mitreißen ließ, dass er diesen zum gesichtslosen Wicht degradierte und dem Film damit jede erzählerische Kraft raubte, nimmt „Vice“ seine Hauptfigur ernst und lässt deren Vorgehen immerhin folgerichtig erscheinen.

McKay kontrastiert die Politikersphäre mit Cheneys Verhalten in seiner Familie, wobei ganz andere Züge zum Vorschein kommen: sei es im Umgang mit seiner Frau Lynne, die Amy Adams subtil als gespaltene Figur zwischen zielbewusster Unterstützung ihres Mannes und eigenen Ambitionen interpretiert, sei es als liebevoller Vater mit überraschenden Wertgrundsätzen. Cheney sammelt sogar Sympathiepunkte, wenn er den gewalttätigen Schwiegervater entschlossen aus der Familie verbannt, oder seine Tochter Mary nach ihrem lesbischen Coming Out uneingeschränkte Unterstützung von ihm erfährt. 

Star im Haifischbecken

Vor diesem Hintergrund tritt die Brutalität von Cheneys Politik umso schärfer hervor, die selbst seine Parteifreunde und engsten Mitarbeiter wie Marionetten betrachtet, denen er im Notfall ohne zu zögern die Fäden zerschneidet. McKay bildet diese Haifischpolitik in vielen Facetten ab, sodass neben Cheney auch andere Protagonisten auf dem Spielfeld der US-Politik der letzten 50 Jahre Profil gewinnen, etwa der von Steve Carell als schmetternder „Falke“ gespielte Donald Rumsfeld und der von Sam Rockwell grandios als übertölpelter Provinzler dargestellte George W. Bush.

Diese Durchleuchtung eines korrupten politischen Systems, die in ihrer Vielschichtigkeit an Paolo Sorrentinos „Il Divo“ erinnert, entgleitet McKay nur dann, wenn er zu Cheneys Anteil am „Krieg gegen den Terror“ und der Invasion des Iraks kommt. Hier verfällt der Film kurzfristig in pure Polemik über die mit Füßen getretenen Menschenrechte, was Aufklärungsansatz wie Unterhaltsamkeit des Films konterkariert.

Doch das sind nur kleine Ausfälle einer bemerkenswert dichten Auseinandersetzung mit dem Wesen von Politik, in der ein Mann wie Dick Cheney nicht zuletzt auch als Symptom einer fatalen Wahltendenz erscheint. Während Serien der letzten Jahre wie „Veep“ oder „House of Cards“ den Eindruck erweckten, als würden weltfremde bis bösartige Politiker und das anonyme Volk in zwei verschiedenen Welten leben, wagt es Adam McKay, die Zuschauer in die Verantwortung zu nehmen. „Vice“ ist nicht zuletzt eine Warnung vor geistiger Trägheit, in der simple Feindbilder und Handstreich-Lösungen erstrebenswert erscheinen, was populistischen Scharfmachern erst zur Macht verhilft. Angesichts des aktuellen politischen Klimas eine Botschaft von universaler Reichweite.

Eine Kritik von Marius Nobach