Vor der Morgenröte - Stefan Zweig in Amerika

  Freitag, 05. August 2016 - 20:30 bis Freitag, 05. August 2016 - 22:30

Eintritt: 5,00 €

Biopic Deutschland/Frankreich/Österreich 2016
Kinostart: 2. Juni 2016
106 Minuten
FSK: ab 0; f

Regie: Maria Schrader     
Drehbuch: Maria Schrader, Jan Schomburg    
Kamera: Wolfgang Thaler    
Musik: Tobias Wagner    
Schnitt: Hansjörg Weissbrich  
 
Darsteller: Josef Hader (Stefan Zweig), Barbara Sukowa (Friderike Zweig), Aenne Schwarz (Lotte Zweig), Matthias Brandt (Ernst Feder), Charly Hübner (Emil Ludwig), André Szymanski (Joseph Brainin), Nicolau Breyner (Leopold Stern), Lenn Kudrjawizki (Samuel Malamud), Tómas Lemarquis (Lefèvre), Harvey Friedman (Friedman), Oscar Ortega Sánchez (Sanchez), Vincent Nemeth (Louis Pierard), Jacques Bonnaffé (Georges Duhamel), Ivan Shvedoff (Halpern Leivick), Irina Potapenko (Paulina Koogan), Abraham Belaga (Abrahão Koogan), Naomi Krauss (Erna Feder))

 
Filmhomepage, WikipediaProgrammkino.deEPD-Film, alle Daten zum Film auf Filmportal.de  
Jan-Arne Mentken: Zwei außergewöhnliche Künstler in der Nazi-Zeit  
Janina John: Das Exilleben Stefan Zweigs in sechs Episoden

Der Filmdienst ist seit Jahren die führende deutsche Kinofilmfachzeitschrift. Da die Kritiken des Filmdiensts nicht ohne weiteres zugänglich sind, drucken wir sie hier ab, unabhängig ob sie positiv oder negativ ausfallen. Unser Ehrgeiz ist es nicht, Interessierte mit hohlen Versprechungen oder plakativen Etikettierunen wie "Kunstfilm" oder "besonderer Film"  ins achteinhalb zu locken. Die wenigstens Filme erhalten vom Filmdienst eine positive Kritik. Es ist daher durchaus so, dass Filme, die dort nicht so positiv "wegkommen", ansonsten durchweg positive Kritiken erhalten haben und wir auch einige Filme "klasse" gefunden haben, die vom Filmdienst kritisch bewertet worden sind. Es ist halt eine Meinung unter mehreren, aber in der Regel eine fundierte. Die höchste Auszeichnung ist das Prädikat "sehenswert", die Altersempfehlung ist eine pädagogische.

Kurzkritik Filmdienst

Der österreichisch-jüdische Schriftsteller Stefan Zweig (1881-1942) reist 1936 zum PEN-Kongress nach Buenos Aires. Auf der Reise wird der Exilant von vielen Seiten bedrängt, die Barbarei des Nazi-Regimes öffentlich zu verurteilen, was den überzeugten Pazifisten in einen Konflikt stürzt: Weder will er sich für einen Krieg aussprechen noch hält er eine Widerstandsgeste ohne persönliches Risiko für sinnvoll. Detailreiches Biopic, das in epischer Breite die Argumentationslinie der Hauptfigur nachvollziehbar macht. Durch die Last der Dialoge bisweilen eher theaterhaft, gelingt es vor allem dank des furiosen Hauptdarstellers, Zweig zum Leben zu erwecken.
Sehenswert ab 14.


Trailer (146 Sekunden):



ausführliche Kritik Filmdienst

Eigentlich ungewöhnlich, einen Film über einen realen Schriftsteller mit den Vorbereitungen zu einem exklusiven Bankett anzufangen. Maria Schrader, die hier als Regisseurin fungiert, ist derart in ihren Einfall verliebt, dass man sich fragt, ob man gleich die Vita eines Kochs oder Kellners serviert bekommt. Kein Detail der durchstrukturierten Tischlandschaft samt Blumenpfaden und hierarchisch geordneten Namenszetteln entgeht der panoramisch gleitenden Kamera des Ulrich-Seidl-Manns Wolfgang Thaler. Die Türen des repräsentativen Raums öffnen sich synchron auf Kommando. Die hineinströmenden Gäste der Haute Volée sprechen Portugiesisch. Es dauert eine Weile, bis der Hauptakteur diese wie ein Gesamtkunstwerk orchestrierte Bühne betritt. Es ist Stefan Zweig, der 1936 in Rio de Janeiro vom Außenminister mit feierlichen Worten in Empfang genommen wird.

Da ist der vielsprachige Kosmopolit bereits seit zwei Jahren auf der Flucht und nur auf Durchreise nach Buenos Aires, wo er am Kongress des PEN-Clubs teilnehmen möchte. Journalisten aus allen Ländern erwarten hier von ihm eine kritische Stellungnahme gegenüber der Barbarei des NS-Regimes, das seine Bücher verbrennt und das Leben von zurückgebliebenen Kollegen bedroht. In epischer Breite zerpflückt Maria Schrader Zweigs pazifistische Argumentationslinie, jede Widerstandsgeste ohne Risiko zeuge nur von Eitelkeit. Filmisch ist dieses Interview mit seinem lebensecht inszenierten Fragenkatalog nicht, aber ist man einmal an die aus dem Theater bekannte Geschwindigkeit gewöhnt, bekommt Josef Hader freie Bahn für seine wunderbare Verkörperung des österreichischen Schriftstellers, die man in dieser Schärfe und Sensibilität von einem Erfolgskabarettisten nicht erwartet hätte.

Je länger Zweig im Exil lebt, desto schwerer fällt es ihm, seine öffentliche Zurückhaltung aufrecht zu erhalten. Er leidet darunter, dass er in Sicherheit sein darf, während ihn regelmäßig Nachrichten von verfolgten Freunden und Verwandten einholen. Die meisten schicken ihre um Hilfe flehenden Briefe an seine Ex-Frau, die es nach langen Strapazen aus Frankreich nach New York geschafft hat. Sie kritisiert offen Zweigs Neigung zum inneren Rückzug und scheut sich auch nicht, ihm fehlende Empathie vorzuwerfen. Es ist kein Zufall, dass dieser Part mit Barbara Sukowa besetzt ist: Sie garantiert den Vergleich mit der Verfilmung eines anderen Exilanten-Schicksals, dem von Hannah Arendt, die im Gegensatz zu Stefan Zweig ihre Entwurzelung mit messerscharfer Analyse bekämpfte und nach dem Krieg mit polarisierenden Thesen regelrecht in Kampfstellung ging.

Zweig versucht zu helfen, sein Name öffnet Türen, er braucht aber auch Zeit und Ruhe für sein Schreiben, das ihn sinnstiftend am Leben hält. In fünf Episoden zeichnet Maria Schrader diese nervenzehrende Konfliktlage nach, die hin und wieder doch noch Raum für eine idealisierte Begeisterung für das scheinbar so tolerante Brasilien zulässt, absurde Situationen in der Provinz, wo sich Zweigs Ruhm in weiblicher Fan-Kultur entlädt und ein neues letztes Zuhause inmitten eines wuchernden Dschungels in dem Berg-Ort Petrópolis, das unerwartet mit alten Bekannten aus der Heimat aufwartet. Man kommt nicht umhin, an unsere von Fluchtströmen und sich schließenden Grenzen geprägte Zeit zu denken. Der Film drängt diese Lesart aber nicht auf. Das Drama, dem die Figuren in ihrem Davongekommensein ausgeliefert sind, spielt sich inmitten idyllischer Sommerlandschaften ab. Und doch hängt über Zweigs ostentativ ausgestellter Lebensfreude stets ein melancholischer Schleier, der sich irgendwann nicht mehr aus dem Weg räumen lässt. Zusammen mit seiner viel jüngeren, asthmakranken Frau nimmt er im Februar 1942 eine Überdosis Veronal ein.

Alexandra Wach, FILMDIENST 2016/11