Projekt A - Eine Reise zu anarchistischen Projekten in Europa

  Dienstag, 14. Juni 2016 - 19:30 bis Dienstag, 14. Juni 2016 - 21:30

Eintritt: frei
2 Euro Spende für die revista  


Deutschland/Spanien/Griechenland/Schweiz, 2015
Kinostart: 4. Februar 2016

Produktionsfirma: Port-au-Prince
Verleih: Drop-out Cinema
88 Minuten
FSK: ab 12; f
 
Produktion: René Römert, Jan Krüger, Marcel Seehuber, Moritz Springer    
Regie: Marcel Seehuber, Moritz Springer    
Buch: Marcel Seehuber, Moritz Springer    
Kamera: Marcel Seehuber    
Schnitt: Frank Müller   

FILMFEST MÜNCHEN 2015: PROJEKT A" gewinnt den Publikumspreis

 

Filmhomepage, Facebookseite, Wikipedia   

 

Der Filmdienst ist seit Jahren die führende deutsche Kinofilmfachzeitschrift. Da die Kritiken des Filmdiensts nicht ohne weiteres zugänglich sind, drucken wir sie hier ab, unabhängig ob sie positiv oder negativ ausfallen. Unser Ehrgeiz ist es nicht, Interessierte mit hohlen Versprechungen oder plakativen Etikettierunen wie "Kunstfilm" oder "besonderer Film"  ins achteinhalb zu locken. Die wenigstens Filme erhalten vom Filmdienst eine positive Kritik. Es ist daher durchaus so, dass Filme, die dort nicht so positiv "wegkommen", ansonsten durchweg positive Kritiken erhalten haben und wir auch einige Filme "klasse" gefunden haben, die vom Filmdienst kritisch bewertet worden sind. Es ist halt eine Meinung unter mehreren, aber in der Regel eine fundierte. Die höchste Auszeichnung ist das Prädikat "sehenswert", die Altersempfehlung ist eine pädagogische.

Kurzkritik Filmdienst

  Dokumentarfilm über gesellschaftliche Projekte, die in Europa mit Ideen des Anarchismus gegen die Krise des kapitalistischen Systems angehen. Kooperativen, Vereine und Initiativen in Athen, Katalonien, Deutschland und der Schweiz entwickeln Alternativen kollektiven Handelns, in denen Geld keine dominierende Rolle spielt und der Einfluss des Staates zurückgedrängt wird. Die undogmatischen Aktionen zeigen pragmatische Wege auf, wie man dem Ideal einer herrschaftsfreien Gesellschaft unter den gegenwärtigen Bedingungen näher kommt.
ab 14

 
Trailer (143 Sekunden):



ausführliche Kritik Filmdienst

Die unübersehbare Krise des kapitalistischen Systems stellt immer dringender Fragen nach potentiellen Alternativen. Ausgehend von der Begegnung mit dem Anarchismus-Historiker Horst Stowasser und seinen Schriften zum Thema haben sich Moritz Springer und Marcel Seehuber aufgemacht, um das „Schreckgespenst“ Anarchismus in Augenschein zu nehmen. Es gibt zwar auch Bilder vom Internationalen Anarchistischen Treffen in St. Imier in der Schweiz und pathetische Töne bleiben nicht aus, wenn es um die Geschichte der anarcho-syndikalistischen Bewegung im Spanien der 1930er-Jahre geht. Doch statt der Geschichte oder der reinen Lehre des Anarchismus will „Projekt A“ recht pragmatisch einem möglichst breiten Publikum zeigen, dass Anarchismus mehr ist als das von den Medien (und mitunter auch von Anarchisten) gezeichnete Bild vom Schwarzen Block, der sich Scharmützel mit der Staatsgewalt liefert.
Im Kern geht es beim Anarchismus um die libertäre Utopie von der herrschaftsfreien Gesellschaft gleichberechtigter Individuen, die unter allen möglichen Rücksichten auf die bestehenden Strukturen realisiert werden soll. Um Formen der Selbstorganisation auf Graswurzel-Niveau, die sich dem Zugriff des Staates entziehen. Deshalb kommen wohl Vorstellungen von Anarchismus zu Sprache, die vielleicht nur in der Entscheidung, sich gemeinschaftlich zu engagieren, einen gemeinsamen Nenner finden.
Die nächste Stufe des Projektes „A“ wäre dann wohl, die Vielzahl der Projekte untereinander zu vernetzen und so an das alte Modell einer „Gegenkultur“ anzuknüpfen. Interessanterweise taucht im Film dafür das (negativ besetzte) Bild des Hippies auf, um das „Projekt A“ davor zu bewahren, als idealistisch-weltfremder „Traum von einer Sache“ vorschnell abgetan zu werden.
„Projekt A“ ist konkret und handelt von konkreten Erfahrungen. So geht es nach Athen, wo Aktivisten einen Parkplatz in einen öffentlichen Park verwandelt haben. In einen Stadtteil, der als Herz der griechischen Anarchisten-Bewegung gilt, wo Menschen gemeinsam daran arbeiten, ohnehin zusammengebrochene staatliche Strukturen (zum Beispiel im Gesundheitssystem) in Eigeninitiative zu ersetzen. Andererseits ist dieser Stadtteil weitgehend autonom: Häuser werden besetzt, die Banken haben geschlossen, die Polizei traut sich nicht mehr ins Viertel. Einmal sieht man einen Mann, der seine in Brand gesteckte Limousine zu löschen versucht. Als die Feuerwehr eintrifft, wird deren Fahrzeug schnell zum Ziel von Vermummten, die Brandsätze schleudern.
In Katalonien, wo das Wort „Anarchismus“ traditionell einen guten Klang hat, versucht eine unabhängige Gewerkschaftskooperative in Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen Politik zu machen. Man arbeitet in Netzwerken untereinander, berät Schuldner, versucht Wohnraum oder auch Land für Öko-Projekte zu bekommen, tauscht bargeldlos Dienstleistungen und lebt ohne Privateigentum. Daneben gibt es Stadtführungen, die die Geschichte des „kurzen Sommers der Anarchie“ (Enzensberger) in Katalonien in Erinnerung halten (und dabei nicht an die von der Sowjetunion gesteuerten Säuberungen erinnern).
In Deutschland wird die Aktivistin Hanna Poddig begleitet, wie sie gegen Castor-Transporte kämpft und dafür wirbt, sich nicht durch theoretische Einsichten und Modelle daran hindern zu lassen, überhaupt aktiv zu werden. Es gehe darum, den Widerstand impulsiv zu leben. Auch die Gründung des Münchner Kartoffelkombinats ist eine eher pragmatische Initiative, die auch gar nicht mit dem Gedankengut des Anarchismus in Verbindung gebracht werden möchte. Eine genossenschaftlich organisierte Initiative zur Selbstversorgung, die Raum für unterschiedliche Formen und Intensitäten des Engagements bietet.
So versammelt „Projekt A“ – gewissermaßen gegen seinen Titel – vor allem die Botschaft, dass es höchste Zeit ist, sich kollektiv zu engagieren und aktiv zu werden. Sollte dieses Engagement dann anarchistischen Idealen verpflichtet sein, schön und gut. Aber aktuell backt der Anarchismus eher kleine, unorthodoxe und vor allem undogmatische Brötchen, was sich angesichts der Zeitläufte durchaus als historische Chance erweisen könnte. Emanzipatorische Praxis ist möglich und kommt derzeit ohne größeren theoretischen Überbau aus. Diese Botschaft vermittelt der sehr sympathische Film auf anregend offene Weise.

Ulrich Kriest, FILMDIENST 2016/3