Mediterranea

Mittwoch, 25. November 2015 - 19:30

Eintritt frei
Reservierung 1 Euro

Italien/Frankreich/USA/Deutschland/Katar 2015
Kinostart: 15. Oktober 2015
111 Minuten
FSK: ab 12; f
 
Produktion: Jason Michael Berman, Chris Columbus, Jon Coplon, Christoph Daniel, Andrew Kortschak, John Lesher, Ryan Lough, Justin Nappi, Alain Peyrollaz, Gwyn Sannia, Marc Schmidheiny, Victor Shapiro, Ryan Zacarias, Alexander Akoka, Philippe Akoka, Juliet Berman, Dan Jawey, Isabel Siskin    

Regie: Jonas Carpignano    
Buch: Jonas Carpignano    
Kamera: Wyatt Garfield    
Musik: Benh Zeitlin, Dan Romer    
Schnitt: Nico Leunen, Affonso Gonçalves, Sanabel Cherqaoui    

Darsteller:  Koudous Seihon (Ayiva), Alassane Sy (Abas), Aisha (Aisha), Paolo Sciarretta (Lagerwache), Annalisa Pagano (Cristina Riso), Davide Schipilliti (Rocco), Vincenzina Siciliano (Marta), Pio Amato (Pio), Mimma Papasergio (Mimma), Bilal Fall (Togo), Naciratou Zanre (Zena), Fallou Fall (Adam)    


Der Filmdienst ist seit Jahren die führende deutsche Kinofilmfachzeitschrift. Da die Kritiken des Filmdiensts nicht ohne weiteres zugänglich sind, drucken wir sie hier ab, unabhängig ob sie positiv oder negativ ausfallen. Unser Ehrgeiz ist es nicht, Interessierte mit hohlen Versprechungen oder plakativen Etikettierunen wie "Kunstfilm" oder "besonderer Film"  ins achteinhalb zu locken. Die wenigstens Filme erhalten vom Filmdienst eine positive Kritik. Es ist daher durchaus so, dass Filme, die dort nicht so positiv "wegkommen", ansonsten durchweg positive Kritiken erhalten haben und wir auch einige Filme "klasse" gefunden haben, die vom Filmdienst kritisch bewertet worden sind. Es ist halt eine Meinung unter mehreren, aber in der Regel eine fundierte. Die höchste Auszeichnung ist das Prädikat "sehenswert", die Altersempfehlung ist eine pädagogische.

Kurzkritik Filmdienst

Im Januar 2010 kam es im süditalienischen Rosarno zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Einheimischen und afrikanischen Migranten. Der semi-dokumentarische Film erzählt eine fiktive Vorgeschichte des Geschehens von der Flucht übers Mittelmeer bis zur Schwarzarbeit auf den italienischen Orangenfeldern, wobei er eindringlich das perspektiv- und rechtlose Dasein der Flüchtlinge aufzeigt. Das von Laiendarstellern beeindruckend gespielte Drama verzichtet auf jegliche Schwarz-weiß-Zeichnungen und findet bei aller Trostlosigkeit Raum für Momente von Freundschaft, Hoffnung und Großzügigkeit.
 - Sehenswert ab 16.     

FilmhomepageProgrammkino.deFilmgazette, EPD-Film,  alle Daten zum Film auf Filmportal.de   
Pressespiegel 

Schulmaterial: Vision Kino, Kinofenster   

 

3-minütiger Bericht zu dem Film vom Filmmagazin KinoKino von Bayern III:

 

4-minütiger Bericht zu dem Film vom 3Sat-Kinomagazin Close up:


Trailer:

 

ausführliche Kritik Filmdienst

Als er seine Landsleute am Boden liegen sieht, niedergestreckt von halbstarken Rassisten, da greift auch Ayiva zum Holzknüppel. Der sonst so vernünftige und disziplinierte Asylsuchende aus Burkina Faso schlägt plötzlich Autoscheiben ein, setzt Barrikaden in Brand, lässt sich von der zerstörerischen Stimmung der Nacht anstecken.
Diese Explosion der Gewalt hat es wirklich gegeben: Am 7. Januar 2010 schossen in der süditalienischen Kleinstadt Rosarno Jugendliche, darunter der Sohn eines N’drangheta-Bosses, mit einem Luftgewehr auf afrikanische Saisonarbeiter, woraufhin es zu schweren Unruhen zwischen Einheimischen und Migranten kam. Der Italo-Amerikaner Jonas Carpignano erzählt nun die Vorgeschichte zu jener nicht nur für Italien, sondern angesichts einer verfehlten Flüchtlingspolitik für die ganze EU so beschämenden Nacht.
Das Geschehen um Ayiva und seine Freunde Abas und Mades ist fiktiv, aber deshalb nicht weniger wahr: „Mediterranea“ zeigt mit semi-dokumentarischem Blick die lebensgefährliche Flucht übers Mittelmeer, die Schwarzarbeit auf den italienischen Orangenfeldern – von ihrem geringen Verdienst müssen die Migranten auch noch ein „Schutzgeld“ an die örtliche N’drangheta zahlen – und das Leben in der heruntergekommenen Fabrikruine vor den Toren des Städtchens. Dass die Zustände für Menschen ohne Aussicht auf Asyl so sind, wie Carpignano sie beschreibt, weiß man längst schon aus den Nachrichten: Elend und schmerzhaft perspektivlos.
Diese Migranten sind Sklaven und Rechtlose, das stellt der Film luzide heraus, ohne es verbal formulieren zu müssen. Die Erzählung, die Bilder genügen völlig. Ein grausames Geschäft mit deren Verzweiflung wird dies- wie jenseits des Mittelmeers gemacht: Der skrupellosen N’drangheta in Italien entsprechen auf afrikanischer Seite brutale Beduinen, die Ayivas Flüchtlingstreck in der algerischen Wüste überfallen. Mit der Handkamera bleibt der Regisseur so nahe bei den Protagonisten, wie man nur sein kann – was den Überblick und damit den Einstieg ins Geschehen zunächst etwas erschwert, zumal die Inszenierung zu Beginn präziser sein könnte. Ist diese Hürde aber genommen, erweist sich die Unmittelbarkeit als großer Pluspunkt des Films, der die Geschehnisse auch für den Zuschauer so beklemmend macht. Die Angst und Ohnmacht der völlig der Willkür der Anderen und der Kälte des kapitalistischen Systems ausgelieferten Afrikaner sind förmlich mit Händen zu greifen – etwa wenn sie von einem passierenden Wagen mehrmals fast gerammt werden, mit voller Absicht; oder wenn ein fröhliches kleines Fest der Migranten jäh und fast wortlos beendet wird durch das Auftauchen von zwei örtlichen Halbstarken – stumm verschwinden zwei schwarze Frauen mit ihnen im Nebenraum, um sich dort zu prostituieren: oder wenn einer der Migranten bei der Arbeit unter einem Stapel Obstkisten begraben wird: Der Padrone befiehlt, zunächst die Maschinen abzustellen, bevor man den Verschütteten birgt.
Es ist eine trostlose Welt, und doch gelingt es Carpignano, seinen Film nicht in düsterem Elend versinken zu lassen, Momente von Freundschaft, Hoffnung, Großzügigkeit oder schlicht einem pragmatisch-freundlichen Miteinander auf Augenhöhe zu kreieren. Das ist, neben der Nähe zu seinen von Laien beeindruckend gespielten Protagonisten, die große Stärke von „Mediterranea“: die differenzierte Darstellung beider Seiten, die aber auch nicht volksschulhaft auszirkuliert daherkommt. So gehören zu den auftretenden Italienern bei weitem nicht nur Freier und Rassisten. Da ist etwa der Junge Pio, der selbstbewusste, aber auch faire Schwarzmarktgeschäfte mit den Flüchtlingen betreibt; der Obstplantagenbesitzer, der zumindest in der Theorie Empathie für die Nöte des Flüchtlingsdaseins aufbringt; seine Familie, die angesichts des aus den Nachrichten in ihr Städtchen geschwappten Elends den hilflosen Satz „Tun wir so, als ob nichts wäre“ zu ihrem Mantra erhoben hat. Und es gibt sogar wirkliche Hoffnungsträger wie eine engagierte Sozialhelferin sowie die ältere, von allen „Mama Africa“ genannte Dame, die die Flüchtlinge mit Essen und Gesang versorgt.
Zudem strukturiert der Film ebenso souverän wie beiläufig Schlüsselmomente durch prägnante Musik- und Tanzszenen: Der fröhliche Abend in der Flüchtlingsbaracke, der über Skype vorgeführte Tanz von Ayivas Tochter in der Heimat, das Fest der Tochter des Padrone, bei dem Ayiva auf zwei der Anführer des Flüchtlings-Pogroms trifft. Woraus keine Katharsis, ja, nicht einmal eine Konfrontation erwächst: Ungerechtigkeiten und Widersprüche wie diese lässt Carpignano stehen, werden nicht aufgelöst. Denn dies HIER ist die Realität, kein Heldenstück.

Katharina Zeckau, FILMDIENST 2015/21