Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern

Freitag, 18. September 2015 - 20:30

Eintritt: 5,00 €

Schweiz/Deutschland 2015
Kinostart: 21. Mai 2015
90 Minuten
FSK: ab 16; f


Regie/Buch: Stina Werenfels     
Vorlage: Lukas Bärfuss (Bühnenstück "Die sexuellen Neurosen unserer Eltern")    
Kamera: Lukas Strebel    
Musik: Peter Scherer    
Schnitt: Jann Anderegg    

Darsteller: Victoria Schulz (Dora), Jenny Schily (Kristin), Lars Eidinger (Peter), Urs Jucker (Felix) 

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Pressespiegel

 

Kurzkritik Filmdienst

Eine geistig beeinträchtigte junge Frau muss mit ihrem 18. Geburtstag keine regulierenden Medikamente mehr einnehmen und erwacht aus einer Art Dämmerzustand, was nicht nur die Emanzipation aus ihrem behütenden Elternhaus nach sich zieht, sondern zuvorderst wilden Sex, Schwangerschaft und Abtreibung bedeutet. Der nach einem Theaterstück inszenierte Film feiert wohltuend unverkrampft die heitere Lebenslust seiner Protagonistin, die exemplarisch für das Recht auf Sexualität und Selbstbestimmung auch geistig behinderter Menschen steht. Der ungeheuerlich-heftige, aber auch ungeheuer mutige Film schlägt bisweilen unverhofft humorvolle Töne an und konfrontiert mit den fließenden Grenzen der Wahrnehmung sowie mit dem Fließen moralischer Grenzen.
 - Sehenswert ab 16.   

Trailer:


ausführliche Kritik Filmdienst

Dora mag es gern hart. So, dass sie am nächsten Tag ihre blauen Flecken bewundern und kleine Blessuren betasten kann. Es ist dies eine Art Rückversicherung. Eine Bestätigung für das Geschehene; denn eigentlich geht ihre Sexualität außer Dora niemanden etwas an. Schließlich feiert Dora zu Beginn ihren 18. Geburtstag. Nach dem Gesetz ist sie volljährig, mündig und auch autonom. In der Praxis sieht das aber etwas anders aus als auf dem Papier. Denn die ursprünglich einem Theaterstück von Lukas Bärfuss entsprungene Dora ist zwar kein „Mongo“, wie sie selbst befürchtet, wohl aber ein bisschen „anders“. Oder, wie die von Jenny Schily sensibel gespielte Mutter es formuliert: „einfach Dora eben“: eine 18-Jährige, mit dem Körper einer jungen Frau und der geistigen Reife eines zehnjährigen Kindes. Man erfährt nur so viel, dass Doras Eltern ihre Tochter bisher medikamentös behandeln ließen. Und dass die Mutter Dora am 18. Geburtstag verspricht, nie mehr Pillen schlucken zu müssen, womit sich der Vater – meist die Ruhe in Person: Urs Jucker – stillschweigend einverstanden erklärt. Für Dora beginnt damit das (nicht nur sexuelle) Erwachen. Das – clever in subjektiv-verwischten Bildern ihrer selektiven Wahrnehmung eingefangene – Auftauchen aus dem medikamentösen Dämmerzustand. Die schrittweise Emanzipation aus dem wohlbehüteten Elternhaus, die vorerst darin besteht, dass Dora den Weg zum Früchtehändler, bei dem sie jobbt, fortan allein geht.
Auf der Arbeit lernt sie den in der Umgebung arbeitenden Peter kennen, dem sie eines Tages mit einem Granatapfel in der Hand in die Unterführung nachläuft. Auch wenn der von Lars Eidinger lackaffig gespielte junge Mann vorerst nicht ganz versteht, wie es um Dora steht, gibt er ihr, wonach sie sucht: De facto schaut man, derweil der Granatapfel verloren unter die Heizung in der öffentlichen Toilette kugelt, einer Vergewaltigung zu. Die entsetzte Mutter schleppt Dora zu Polizei, Arzt, Psychiater. Dora aber, die das Geschehen in traumwandlerischer Ruhe über sich ergehen ließ, strahlt: „Scheidenpimmelchen ist schön!“ Da lässt sich von Gesetzes wegen nicht viel machen. Dora und Peter treffen sich weiterhin, bald schon ist Dora schwanger. Auch wenn da nun von Abhängigkeit und sexueller Ausnutzung geredet werden muss: Der Film von Stina Werenfels tut es nicht. Er feiert viel mehr wohltuend unverkrampft die heitere Lebenslust seiner Protagonistin; wobei sich im Gesicht der von Victoria Schulz durchaus überzeugend gespielten Dora bei einer rasanten Cabriolet-Fahrt, einem Pogo-Tanz im Wald und beim Sex dasselbe ekstatische Entzücken spiegelt.
Für den Autor Bärfuss, der mit dem 2003 uraufgeführten Stück „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ große Erfolge feierte, war Dora „ein starkes, wildes Mädchen, das an seinen Träumen und seinem Begehren gegen alle Widerstände festhält“. Werenfels hat Doras Geschichte weiter aufgefächert: Sie stellt Doras Erstarken und ihre wachsende Lebenslust der zunehmenden Verdrossenheit und Überforderung der Eltern gegenüber. Ihre selbstverständliche Fruchtbarkeit – Dora wird nach der ersten Abtreibung sogleich wieder schwanger – der verkrampften Sexualität der Eltern, die unbedingt nochmals und diesmal explizit ein „gesundes“ Kind zu zeugen versuchen.
„Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ ist in mehrfacher Hinsicht ein ungeheuerlicher und heftiger, aber auch ungeheuer mutiger, dazu bisweilen unverhofft humor- und letztlich auch liebevoller Film. Einer, der immer mal wieder – den unschuldigen Blick seiner Protagonistin einnehmend – unverbrämt thematisiert, was die Gesellschaft gern tabuisiert: das Recht auf Sexualität und Selbstbestimmung geistig Behinderter. Die erschöpfende Gratwanderung, die dies für Angehörige bedeutet. Aber auch - und damit fordert Werenfels das Publikum am stärksten - die fließenden Grenzen der Wahrnehmung, die zugleich das Fließen der Grenzen der Moral bedeuten. Kein bequemer, aber ein garantiert stark nachbebender Film.
Irene Genhart, FILMDIENST 2015/10